Beschreibung
"Klinik": Ein Mann rasiert sich. Das Telefon läutet. Eine Frau teilt ihm mit, etwas im Briefkasten hinterlegt zu haben. Sie scheint sich verwählt zu haben. Die Frau ruft wieder an. Sie gibt vor, den Mann zu kennen. Immer wieder ruft sie an, meistens ganz früh am Morgen, wenn der Mann noch schläft. Warum hat er sein Handy nicht ausgeschaltet? Die Frau erzählt von sich. Er hört ihr zu. Sie sagt, sie liebe ihn. Und sie sagt, sie sei seit Wochen in der Psychiatrie. Von sich erzählt der Mann ihr nichts. Sie scheint auch nicht wirklich etwas von ihm wissen zu wollen. Eine Art Phasenverschiebung kommt in Gang. Ruft die Frau einmal nicht an, fehlt sie ihm. Der Mann fühlt sich zunehmend verstrickt. Sie fordert ihn dazu auf, die Welt zu verändern, einmal kräftig aufzuräumen. Phantasien werden ausgetauscht, zumindest im Kopf. Wer ist wo? Gibt es die Frau überhaupt? Würde sie überhaupt zuhören, wenn der Mann mit ihr spräche? Wer nutzt wen aus? Die Verzweiflung der Frau scheint von Tag zu Tag zuzunehmen, immer merkwürdigere Dinge erzählt sie. Der Mann kann nicht lassen, ihr zuzuhören. Sie wird zudringlich, er möchte sie sich vom Leib halten, aber nicht ihre Stimme. Unfreiwillig wird der Mann zum Mitwisser bedrohlicher Vorgänge. Unfreiwillig? Er fühlt sich schuldig - aber wofür? Und die Verschwörung, von der die Frau erzählt, die sie so eindringlich vor Augen stellt, wenn nun doch etwas daran wäre? Was hat es mit dem Todesengel auf sich? Und was ist Diazepan? Ist das nicht eigentlich schizophren, dass jemand, der schizophren sein soll, über sich selbst Auskunft gibt, als wäre er ein anderer und seine derzeitige Situation ein einziger verhängnisvoller Irrtum? Oder gehört das bereits zum System? Woher weiß die Frau so viel über den Mann? Wo ist die Grenze, die nicht überschritten werden darf? Eines Tages bekommt der Mann tatsächlich einen Brief. Wenig später ein Paket. Die Sache nimmt Konturen an. Und sollte so schnell wie möglich beendet werden. "Muttersterben": Die Nachricht vom Tod der Mutter führt den Erzähler zurück in die Vergangenheit. Er beschreibt die Veränderungen, die er an der Mutter durch die Krankheit erlebte, aber auch wie die Krankheit sein Verhältnis zu ihr beeinflusste. "Auf ihrem letzten foto hat Mutter das kleid schon an, in dem sie später beerdigt wird. Das hat ihr immer gut gestanden, und weil das ihr letztes foto ist, sagt Vater. Vom tod gezeichnet, wie das so landläufig so heißt, so schaut Mutter eindeutig neun monate vor ihrem tod. Als müsse sie in unvorbereitet kürzester zeit stellung beziehen, wo ihr doch die bloße anwesenheit die ärgste anstrengung war." In der radiophonen Fassung seiner Erzählung Muttersterben, für die er 2001 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, ist Michael Lentz der Interpret seines eigenen Textes. "Wut auf die Unzulänglichkeit der Sprache, Wut auf die trostlose Heimatstadt Düren, Wut auf die "Reparatur-, Heilungs- und Beendigungsstätte", in der die Mutter ihrem Tod langsam entgegenstirbt. Diese geballte Wut spricht der Autor ins Mikrophon, so dass sie dem Hörer noch deutlicher werden kann als dem Leser." (Annette Vielhauer in der Funkkorrespondenz, 26.04.2002)
Autorenportrait
Michael Lentz, geb. 1964 in Düren. Autor, Herausgeber, Musiker. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ingeborg Bachmann-Preis 2001, Preis der Literaturhäuser 2005. Romane u.a. "Liebeserklärung" (2003), "Pazific Exil" (2007). Autor von "Lautpoesie/-musik nach 1945" (2000). BR-Hörspiele "Muttersterben" (2002), "Exit" (2005), "rot sehen" (2006).