Beschreibung
"Eines Tages kaufte ich weiße Karteikarten, einen Klebestift und fing an, im Zug mit der Nagelschere aus der Zeitung ein Schwarzweiß-Bild und Wörter auszuschneiden. Auf eine Karte klebte ich dann das Bild und ein paar Wörter. Die Texte wurden immer länger. Es entstanden Geschichten aus verschiedenen Farben und Schrifttypen. Die Texte klingen, weil die unterschiedlichen Farben, die Wörter tönen und die unterschiedliche Größe ihnen eine unterschiedliche Stimme geben. Auf jeder Karte steigt der Text mit dem Bild auf eine Bühne, jede Karte inszeniert ihr kleines Theater. Je länger ich mit den Wörtern arbeitete, umso länger wurden die geklebten Texte. Es ist für mich mittlerweile selbstverständlich mit gefundenen Wörtern zu schreiben. Weil sie aus ganz verschiedenen Zeitschriften kommen, macht ihre Unterschiedlichkeit die Texte sinnlich. Es ist der intensivste Kontakt mit Sprache, weil man jedes Wort einzeln anfassen muss." (Herta Müller) 39 neue, unveröffentlichte Text-Bild-Collagen von Herta Müller bilden das Ausgangsmaterial des Hörstücks. "Ich muss auch da in Kürzestform immer etwas erzählen", so die Autorin über ihre Collagen: "Der Rhythmus der Sätze muss da sein. Man muss es laut lesen können, ohne mit der Zunge zu stolpern. Und ich muss das Bild der Sätze im Kopf gesehen haben, um sie auf ihre Plausibilität zu prüfen. Das ist mit den Collagen genauso wie in der Prosa." Die bedrückende Atmosphäre, die Müllers Romane bestimmen, verdichtet sich in den Collagen auf surreale Weise. Das Hörstück zeichnet den Weg einer Bedrohung nach, der sich ein Ich ausgesetzt sieht. Jemand muss es verleumdet haben, das weiß schon der Wind, über den wiederholt gesagt wird, er sei so frisch wie Milch, so alt wie Lehm. Die Kräfte arbeiten im Verborgenen. Kaum aber wird es Tag, wird der, der aufrecht "Ich" sagt, abgeholt. Eine Fahrt, wohin? Ein Verhör. Und vermeintliche Freiheit. Die Bedrohung ist nun überall. Die Akteure der Hörcollage sind zwei Stimmen und die Stille. Die Stimmen erzählen, und die Stille schweigt nicht: Auch das Nichtgesagte kann gehört werden. Es haust in den Stimmen und färbt die Wörter.
Autorenportrait
Herta Müller, geb. 1953 in Nitzkydorf, einem deutschsprachigen Dorf im Banat/Rumänien. Nach Publikationsverbot und Repressionen durch den Geheimdienst Securitate 1987 Ausreise nach Berlin. Lebt seither in Berlin. 2009 Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Literatur. Werke u.a. "Niederungen" (1984), "Reisende auf einem Bein" (1989), "Der Fuchs war damals schon der Jäger" (1992), "Herztier" (1994), "Im Haarknoten wohnt eine Dame" (2000), "Die blassen Herren mit den Mokkatassen" (2005), "Atemschaukel" (Roman, 2009).