Beschreibung
Die Frauen in diesem Roman sind entwurzelt, heimatlos, nie ganz angekommen in einer Gesellschaft, die unlebbar ist, vor allem für Frauen und Fremde. Voller Wut erzählt Sinha von Rassismus, Sexismus und Unterdrückung in Frankreich wie in Indien: Esha stammt aus wohlhabendem, gebildetem Milieu in Kalkutta, sie ist aus Liebe zur Sprache nach Paris gekommen, einem romantischen Traum folgend. Doch während sie auf das Ergebnis ihres Einbürgerungsantrags wartet, häufen sich die rassistischen Bemerkungen, die abfälligen Blicke, die Enttäuschungen. Mina ist Analphabetin und stammt aus einer Bauernfamilie, die seit Generationen Land in Bengalen bewirtschaftet, das ihr nicht gehört. Sie wird in einen Aufstand gegen den Bau einer Autofabrik hineingezogen. Doch sie hat eine viel drängendere Sorge, denn sie ist von ihrem Cousin Sam schwanger, der sie ganz sicher nicht heiraten wird. Marie schließlich wurde schon als Säugling von liberalen französischen Eltern adoptiert. Sie reist regelmäßig nach Indien, auf unbestimmter Suche nach Exotik und ihrer eigenen unauffindbaren Herkunft. In einer Gegenwart, die zunehmend von Misstrauen, Angst und sogar Hass dem Anderen gegenüber geprägt ist, ist 'Staatenlos' eine wichtige und einzigartige literarische Stimme, die uns Fragen zur Gewalt, die wir tolerieren, akzeptieren und selbst ausüben, aufzwingt, sei es auch ohne unsere Absicht.
Autorenportrait
Shumona Sinha, geboren 1973 in Kalkutta, lebt seit 2001 in Frankreich. An der Sorbonne schloss sie ihren Magister in Literaturwissenschaft ab. Sie ist Herausgeberin mehrerer Lyrikbände auf Bengalisch und Französisch. Ihr Roman »Erschlagt die Armen!« (2011, dt. 2015) wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, 2016 erhielten Shumona Sinha und Lena Müller den Internationalen Literaturpreis für Roman und Übersetzung. 2016 und 2017 erschienen die Romane »Kalkutta« und »Staatenlos«, 2021 »Das russische Testament«.
Leseprobe
'Das erste Gebiet einer Frau ist ihr Körper. Wird dieser fremdbestimmt, vereinnahmt, belagert, dann ist sie staatenlos.' Shumona Sinha Die Arbeiter und Mechaniker, die Provinzler an den Tischen der Cafés irrten sich nie. Von Weitem machten sie die Betrüger, die Eindringlinge, die schwarzen Schafe in dieser Landschaft aus, die Handvoll Menschen einer Klasse, die mehr oder weniger rechtmäßig in der Nähe des Turms lebte. Sie zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, eine Frau ohne Begleitung, ohne Herrchen, nicht reinrassig, eine brennende Sonne unter der Haut als einziges Erbe. Die Stadt war letztlich bloß ein riesiges Dorf, eine Vorstadt, wo die Leute sich ihre Zeit damit vertrieben, die anderen zu beobachten, zu bewerten, zu billigen oder zu missbilligen. Eine Fliegen-Stadt mit einer Vielzahl gieriger Augen. Die Männer sprachen sie an, musterten und kommentierten sie, wenn sie vorbeiging, folgten ihr von einer Avenue in eine Straße; die Frauen, die die Hunde oder Kleinkinder ihrer Arbeitgeber spazieren führten, musterten sie ebenfalls, regten sich auf und murmelten etwas. Alle erinnerten sie daran, wo sie herkam, wo sie herkamen, sicher angetrieben von einem Gefühl seltsamer Brüderlichkeit, ihr verbunden in der Erinnerung an Elend, Pech und eine traurige Herkunft. Sie musste einen Panzer tragen, eine Maske, Kopfhörer, und den Blick auf den rosa, orange und samtig purpurfarbenen Himmel am Ende der Straße zwischen den Haussmann-Fassaden mit den smaragdgrünen Kuppeldächern richten. Sie musste ihre Wohnung stets wie ein wachsamer Soldat verlassen, den Mund mit schwarzem Faden vernäht.