Autorenportrait
Shamim Sarif lebt mit ihrer Lebensgefährtin Hanan und ihren beiden Kindern in London, doch ihre Wurzeln liegen in Indien und in Südafrika. "Die verborgene Welt" ist ihr erster Roman, die Übersetzung des zweiten ist in Vorbereitung, ein weiterer wird zur Zeit verfilmt. Shamin Sarif gilt als eine der vielversprechendsten jungen britischen AutorInnen.
Leseprobe
LESEPROBE: Als Amina ihr Tagewerk vollbracht hatte, war es draußen beinahe dunkel, und der Regen setzte ein. Sie spürte, wie die ersten Tropfen ihr Gesicht trafen, als sie zum Himmel hinaufschaute, und sie verteilte sie dankbar auf ihrer heißen Stirn, denn die Luftfeuchtigkeit war im Laufe des Nachmittags fast unerträglich geworden. Sie hatte gearbeitet, bis sie kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Miriam hatte am frühen Abend immer mal wieder hinausgeschaut und gesehen, wie Amina schuftete - wie ihr das Hemd von der zunehmenden Schwüle an Rücken und Rippen klebte. Die Kinder hatten ihre Hausaufgaben gemacht und waren fast mit dem Abendessen fertig, als Amina an der Hintertür klopfte. Miriam öffnete, und ihr wurde ein schmales, ledergebundenes Buch hingehalten. "Was ist das?", fragte sie. "Gedichte. Ich bin fürs Erste fertig damit. Sie können sie haben." Miriam war neugierig und berührte das Buch, nahm es jedoch erst, als Amina es ihr in die Hand drückte. "Das kann ich nicht annehmen." "Wieso? Lesen Sie denn nicht gern?" Miriam sah auf und lächelte, mit leuchtenden Augen, und Amina betrachtete sie aufmerksam. Es war, als sei ein Funke entfacht. "Ich lese sehr gern. Früher zumindest", fügte Miriam hinzu, ein bisschen zaghafter. "Früher habe ich viel gelesen." Sie erinnerte sich plötzlich an eine kleine abgenutzte Kiste mit Büchern, die sie aus Bombay mitgebracht hatte, eine zusätzliche Kiste, die sie nicht über das Meer hätte mitschleppen sollen, die ihr aber Trost gespendet hatte. Das letzte Mal hatte sie sie im Haus ihrer Schwiegerfamilie in Pretoria gesehen, aber damals war sie vor lauter Kochen, Putzen, Kinderbetreuung nicht dazu gekommen, sie auch nur zu öffnen. Sie fragte sich, was aus den Büchern geworden war - ob sie bei ihrem Umzug nach Delhof mitgekommen waren. Amina lehnte sich gegen den Türrahmen. "Nehmen Sie es", sagte sie. "Ich habe genug Bücher." "Ach, ja? Wo bekommen Sie sie her?" "Mal hier, mal dort." "Kommen Sie herein und essen Sie etwas", bot Miriam an. "Sie müssen hungrig sein." Amina schüttelte den Kopf. "Danke, aber ich sollte zum Essen zu meinen Eltern fahren. Ich habe sie lange nicht gesehen." Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, ein großes messingfarbenes Rund an einem abgetragenen weichen Lederriemen. Die Uhr ließ ihr Handgelenk schmal und zerbrechlich erscheinen, und einen Moment war Miriam verwundert, dass dieselben Hände da draußen ein so große Stück Land bezähmt hatten. "Ich sollte besser gehen. Danke für das Mittagessen und die Getränke", sagte Amina im Gehen. "Gern geschehen. Danke für das Buch." "Wir sehen uns morgen?", fragte Amina. "Ja", sagte Miriam. "Wir sehen uns morgen."