Beschreibung
Die Atlantis-Erzählung hat einen fiktiven Charakter. Und dennoch bietet der Stoff zahlreiche Informationen über reale Zustände und Begebenheiten der Vergangenheit, die als Erinnerungsmuster im kulturellen Gedächtnis der Griechen tradiert worden sind und in der Form von Mythen die Ideen und Vorstellungen in der Antike gestaltet haben. Platon präsentiert uns einen Querschnitt durch die mythisch verbrämten Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit. Während es mühselig ist, die unkritischen Annäherungsversuche an Atlantis und die spekulativen Lokalisationsversuche zu verfolgen, trennt dieses Buch die mehr als ein Dutzend Theorien einer Verortung von Atlantis als die Spreu vom Weizen. In diesem Buch wird vielmehr eine interdisziplinäre Auswertung durchgeführt, die die Gebiete der Kulturgeschichte, der Zivilisationsforschung, der Archäologie, der historischen Sprachwissenschaft, der Textkritik, der Philosophie und der vulkanologisch-geologischen Wissenschaftssparten integriert und zum ersten Mal das Panorama des Themenkomplexes über Atlantis in seiner ganzen Spannbreite ausleuchtet. Ganz offensichtlich versteckt Platon in seinem Atlantis-Mythos eine moralische Botschaft. Diese wurde für die damaligen Menschen umso glaubhafter, weil sie in kulturelle Erinnerungen an eine zwar längst vergangene, aber für die Mittelmeerwelt der Bronzezeit 'globale' Katastrophe, eine versunkene Welt eingearbeitet ist. Angesichts der unwiderlegbaren Tatsache der Katastrophe von Thera, dem heutigen Santorini, erscheint es abwegig, an eine andere Grundlage für Platons Mythos zu denken. Thera ist augenscheinlich der Deckel, der mit Abstand am besten auf den Topf Atlantis passt.
Autorenportrait
Dr. Harald Haarmann, geb. 1946, ist Sprach- und Kulturwissenschaftler. Seit 2003 ist er Vizepräsident des Institute of Archaeomythology und Direktor dessen europäischer Zweigstelle in Finnland. Zu seinen Veröffentlichungen gehören mehr als 50 Bücher, von denen etliche in mehr als zehn Sprachen übersetzt worden sind. Für seine Arbeit ist Harald Haarmann mehrfach ausgezeichnet worden, u. a. mit dem 'Prix logos', dem 'Premio Jean Monnet' und dem 'Plato Award'. Seine aktuellen Forschungsthemen befinden sich in den Bereichen Archäomythologie, Kulturgeschichte, Antikenforschung und Kontaktlinguistik.
Leseprobe
Das alte Thera - Die ältere Caldera und die Ringinsel Die Bilder in den Fresken sind in einem naturalistischen Stil ausgeführt und so detailreich, dass deren Ausführung als 'foto-realistisch' (Johann 2019) kategorisiert wurde. In diesen Bildern sind deutlich topographische Charakteristika der Küstenlandschaft von Thera zu erkennen, sowohl aus der Zeit vor der Katastrophe als auch solche, die als Landmarken im heutigen Landschaftsbild erhalten geblieben sind. Werden die Informationen in den Freskenbildern in Relation gesetzt zu den geologischen und seismographischen Daten, entsteht ein Landschaftsbild mit vielerlei Variationen. Im alten Thera gab es vulkanische Berge wie die bei der Naturkatastrophe explodierten und untergegangenen Mt Theresia Minoica (ca. 650 m) und Mt Skaros Minoica (ca. 570 m) sowie den heute noch existenten Mt Profitis Ilias (565 m). eine weite Ebene im südlichen Teil war von einem Flusslauf durchzogen. Eine Besonderheit war eine Insel-interne Lagune (Abb. 12). Ursprünglich war Thera eine kompakte Landmasse mit Küstenlinien, die durch keine größeren Einbuchtungen unterbrochen wurden. Solche Inselkonturen hatten lange Bestand, bis sich vor rund 22 000 Jahren alles änderte. Der Vulkanausbruch um 1610 v. u. Z. war nicht die einzige Naturkatastrophe, die die Form der Insel drastisch veränderte. Es gab schon viel früher eine andere Katastrophe, von der die Insel erschüttert und die Landmasse aufgebrochen wurde. Auf dem Meeresgrund im Norden der heute überfluteten Senke (Caldera) wurden zwei großformatige Lavaplatten lokalisiert, die von einem früheren Vulkanausbruch stammen. Eine Folge der Naturkatastrophe von damals war das Absinken des Untergrunds, der sich mit Wasser füllte. Es formte sich eine Lagunenlandschaft, die ältere Caldera (Athanassas 2016). Diese Caldera war im Westen, Süden und Osten geschlossen und hatte nur im Nordwesten einen Durchbruch zum Meer. Auch war die Ausdehnung dieser älteren Caldera insgesamt schmaler als die der modernen. Geologen haben festgestellt, dass es in dieser Caldera eine Insel gegeben hat, die ringsum vom Wasser der Lagune umgeben war, also 'eine kleinere Insel innerhalb der größeren Insel'. die Lokalisierung dieser Ringinsel war eine große Herausforderung. Es sind verschiedene Hypothesen vorgebracht worden (Friedrich 2000, Karátson 2018, Johann 2019). Die meisten Wissenschaftler, die sich dazu geäußert haben, suchen die Ringinsel im Süden oder Zentrum der älteren Caldera. Es scheint aber, dass sich das Netzwerk der vulkanologischen Messwerte inzwischen dahingehend verdichtet hat, dass eine Lokalisierung der Ringinsel im nördlichen Teil der Caldera angesetzt wird. Man geht von der Annahme aus, dass auf dieser Ringinsel die Hauptsiedlung der Leute von Thera in der Zeit vor dem zweiten Vulkanausbruch angelegt war. Die Siedlung auf der Ringinsel lässt sich aufgrund ihrer Landmarken als Ausgangsort der Schiffsprozession identifizieren (Paliou 2011). Der Ort, von dessen Hafen die Prozession abfährt, ist in der virtuellen Rekonstruktion auf der Insel im Nordteil der Lagune lokalisiert. Im Freskenbild ist der Ort, an dem die Schiffe losfahren, von Wasser umringt, was den Charakter als Binneninsel illustriert (Abb. 13).