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Wir Ertrunkenen

eBook - Roman

Erschienen am 11.03.2009, 1. Auflage 2009
Auch erhältlich als:
10,99 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783641011765
Sprache: Deutsch
Umfang: 816 S., 5.01 MB
E-Book
Format: EPUB
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Alles beginnt 1848, als der Seemann Laurids Madsen in den Himmel fliegt und unversehrt wieder zur Erde zurückkehrt ¿ der Tod habe ihn noch nicht gewollt. Irgendwann verschwindet Laurids dann auf den Weltmeeren, und sein Sohn Albert macht sich auf den Weg in die Südsee, um seinen Vater zu suchen. Als er zurückkommt, weiß er, dass im neuen Jahrhundert die Zukunft in den Frachträumen der großen Segelschiffe liegt: Von Marstal aus sollen noch mehr Schiffe in See stechen. Doch Albert hat nicht mit den Frauen gerechnet. Sie hassen das Meer, das ihnen ihre Männer und Söhne genommen hat und immer wieder nimmt. Eine von ihnen eröffnet den Kampf.

Autorenportrait

Carsten Jensen, geboren 1952, wuchs in Marstal auf der dänischen Insel Æro auf. Er studierte in Kopenhagen Literaturwissenschaft und arbeitet seither als Journalist und Kritiker. Er gilt als einer der profiliertesten Essayisten Dänemarks. Sein literarisches Schaffen begann er Mitte der neunziger Jahre. Mit "Wir Ertrunkenen", seinem dritten Roman, gelang ihm ein internationaler Bestseller.

Carsten Jensen wurde 2009 mit dem Olof Palme Preis ausgezeichnet.

Leseprobe

Laurids Madsen war im Himmel gewesen, doch dank seiner Stiefel war er auch wieder heruntergekommen.
Er war nicht bis hoch zum Masttopp geflogen, eher so auf die Höhe der Großrahe eines Vollschiffs. Er hatte am Tor zum Paradies gestanden und den heiligen Petrus gesehen, doch es war nur der Arsch, den der Hüter der Pforte zum Jenseits ihm gezeigt hatte.
Laurids Madsen hätte tot sein sollen. Aber der Tod hatte ihn nicht gewollt, und so wurde er ein anderer.
Bevor Laurids Madsen wegen seines Besuchs im Himmel berühmt wurde, hatte man ihm vorgehalten, eigenhändig einen Krieg angezettelt zu haben. Mit sechs hatte Laurids seinen Vater, Rasmus, ans Meer verloren, und mit vierzehn war er mit der Anna aus Marstal in See gestochen. Drei Monate später war die Anna in der Ostsee untergegangen. Die Besatzung wurde von einer amerikanischen Brigg gerettet, seither hatte Laurids Madsen von Amerika geträumt.
Mit achtzehn hatte er in Flensburg sein Steuermannspatent bestanden und noch im selben Jahr bei Mandal vor der Küste Norwegens ein zweites Mal Schiffbruch erlitten; dort hatte er in einer kalten Oktobernacht auf einer Schäre gestanden, die von den Wellen überspült wurde, und Ausschau nach Rettung gehalten. Fünf Jahre war er über die Weltmeere gesegelt. Er hatte Kap Hoorn umrundet und in der pechschwarzen Nacht den Schrei des Pinguins gehört. Er hatte Valparaiso gesehen, die Westküste von Amerika und Sydney, wo die Bäume im Winter statt der Blätter die Borke verlieren und die Kängurus umherhüpfen. Er hatte ein Mädchen mit Augen wie Weintrauben getroffen, das auf den Namen
Sally Brown hörte, und wusste von der Foretop Street, La Boca, Barbary Coast und der Tiger Bay zu berichten. Er hatte den Äquator überquert, Neptun gegrüßt und den Stoß gespürt, als das Schiff die Linie kreuzte. Er hatte aus diesem Anlass Salzwasser, Fischöl und Essig getrunken. Er war mit Teer, Lampenruß und Leim getauft und mit einem rostigen Messer mit schartiger Klinge rasiert worden, seine Schnitte hatte man mit Salz und Kalk versorgt. Er hatte die ockerfarbene Wange der pockennarbigen Amphitrite geküsst und die Nase in ihr Riechfläschchen voller abgeschnittener Nägel gesteckt. Laurids Madsen war weit herumgekommen.
Wie so viele. Doch als Einziger war er mit der fixen Idee heimgekehrt, dass in Marstal alles zu klein und zu eng war, und um das zu beweisen, redete er ständig in einer Sprache, die er «amerikanisch» nannte. Ein Jahr war er auf der Kriegsfregatte Neversink gefahren und hatte dabei das fremde Idiom gelernt.
«Gevin nem belong mi Laurids Madsen», sagte er.

Er hatte drei Söhne und eine Tochter mit Karoline Grube aus der Nygade. Rasmus, genannt nach Laurids' Vater, Esben und Albert. Das Mädchen hieß Else und war die Älteste. Rasmus, Esben und Else schlugen nach der Mutter; wie sie waren sie nicht sonderlich groß gewachsen und sagten nicht viel. Albert glich seinem Vater. Bereits als Vierjähriger war er ebenso groß wie der drei Jahre ältere Esben. Ständig kullerte er eine englische Kanonenkugel aus Gusseisen umher und versuchte wieder und wieder, sie hochzuheben. Er ging in die Knie und bekam einen verbissenen und stieren Blick, doch noch war sie zu schwer für ihn.
«Heave away, my jolly boys! Heave away my bullies!», spornte Laurids ihn an, wenn er die Versuche seines Jüngsten sah.
Die Kugel war 1807 während der englischen Belagerung von Marstal durch das Dach des Hauses in der Korsgade geschlagen. Großmutter hatte sich dermaßen erschrocken, dass sie Laurids mitten auf dem Küchenfußboden zur Welt gebracht hatte. Wenn Albert nicht gerade damit unterwegs war, hatte die Kanonenkugel ihren festen Platz in der Küche: Karoline benutzte sie dort als Stößel, um im Mörser Senf zu mahlen.
«Tja, genauso gut hättest du deine Ankunft auf diese Weise ankündigen können», hatte Rasmus einmal zu Laurids gesagt, «so groß, wie du warst, als du zur Welt kamst. Wenn der Storch dich verloren hätte, wärst du auch wie eine Deutschen. Man schrieb das Jahr 1848, und der alte Zollamtmann de la Porte erfuhr es als Erster, weil die provisorische Regierung der Aufständischen in Kiel ihm die Proklamation zusammen mit dem Ersuchen schickte, ihnen die Zollkasse auszuhändigen.
Ganz Marstal geriet in Aufruhr, und sofort beschlossen wir einstimmig die Bildung einer Landwehr. An der Spitze stand ein junger Lehrer aus Rise, den wir seither den General nannten. Überall auf den höchsten Punkten der Insel wurden Signalfeuer errichtet; Schwengel, die man an einer langen Stange anbrachte und an deren Ende eine mit altem Tauwerk und Teer gefüllte Tonne hing. Wenn der Feind kam, wurde die brennende Teertonne hochgezogen, um so zu signalisieren, dass der Krieg heransegelte.
Es gab Feuerzeichen auf dem Knasterbjerg und an der Steilküste bei Vejsnses, und überall patrouillierten Strandwachen und spähten über das Wasser.

Laurids, der ohnehin vor nichts Respekt hatte, war das Kriegsspektakel leid. Eines Abends, als er auf der Heimreise aus der Eckernförder Bucht an Vejsnses vorbeikam, segelte er dicht auf den Strand zu und brüllte, dass es über das Wasser gellte: «Der Deutsche ist hinter mir her!»
Wenige Minuten später brannte die Tonne auf dem Gipfel des Steilhangs.

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