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Soziale Ungleichheit im Visier

Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945

Erschienen am 15.04.2016, 1. Auflage 2016
46,00 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593504728
Sprache: Deutsch
Umfang: 334 S.
Format (T/L/B): 2 x 21.5 x 14.1 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Nur selten blicken Arbeiten zum Thema Armut auf das Gegenstück: Reichtum. Kann man das eine soziale Phänomen ohne das andere überhaupt denken, lesen oder gar analysieren? Dieser Band eröffnet eine interdisziplinäre Perspektive auf bislang nicht zusammengedachte soziale Vorstellungen und vergleicht dabei grenz- und fachübergreifende Wahrnehmungsweisen miteinander. Ein wesentlicher Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle der Massenmedien.

Autorenportrait

Eva Maria Gajek, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Gießen. Christoph Lorke, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Münster.

Leseprobe

(An)Ordnungen des Sozialen. "Armut" und "Reichtum" in Konstruktion und Imagination seit 1945 Eva Maria Gajek und Christoph Lorke Das Institut für Demoskopie in Allensbach führte in den Jahren 1955, 1964 und 1971 eine Umfrage durch, die sich unter anderem mit der fol-genden Frage an die westdeutsche Bevölkerung wandte: "Würden Sie selbst gern in einem Land leben, in dem es keine Reichen und keine Armen gibt, sondern alle möglichst gleich viel haben?" Während in den 1950er Jahren noch die Hälfte (49 Prozent) der Befragten mit "ja, möchte ich" antworteten, waren es neun Jahre später weitaus weniger (37 Prozent). Zu Beginn der 1970er Jahre bejahte dann wieder gut die Hälfte aller Personen diese Frage der Demoskopen (51 Prozent). Soziale Ungleichheit ist und war in der bundesdeutschen Gesellschaft eine blei-bende Konstante, auch wenn sich das Niveau von Einkommen und Ver-mögen fortwährend wandelte. Was ebenfalls stetigen Veränderungen unterlag und daher stets im zeitlichen Kontext zu diskutieren ist, ist die Bewertung sozialer Ungleichheit, was nicht zuletzt die Zahlen dieser gerade einmal gut fünfzehn Jahre auseinanderliegenden Umfragen nahe legen. Die Bundesrepublik durchlebte seit ihrer Gründung verschiedene Phasen der Wahrnehmung sozialer Disparität, die eng mit der soziologischen Erforschung und damit der Konzeptualisierung von "Ungleichheit" ver-knüpft waren. Hans-Ulrich Wehler unterscheidet dabei vier Zeitabschnitte, denen unterschiedliche Ungleichheitskonzepte zu Grunde lagen und die dadurch auch unterschiedlich gewichtete Diskussionen initiierten. Hatten die Wirren der untermittelbaren Nachkriegszeit und nicht zuletzt die Währungsreform die Auflösung ökonomischer und sozialer Hierarchien suggeriert, die der Soziologe Helmut Schelsky dann in den 1950er Jahren mit dem Begriff der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" auf den Punkt brachte, setzte der gesellschaftliche Wandel in einer zweiten Phase seit Mitte der 1960er Jahre bis etwa zur Mitte der 1970er Jahre erste kritische Stimmen frei. Nicht nur neomarxistische Strömungen innerhalb der Soziologie bemängelten die weitgehende Nicht-Reflexion sozialer Schieflagen in Wissenschaft und Öffentlichkeit und lieferten alternative gesellschaftliche Beschreibungsformeln. In der dritten Phase bis Mitte der 1980er Jahre wiederum rückte nunmehr jenseits der vertikalen die horizontale Ungleichheit in den Blick. Zum Untersuchungsgegenstand der Soziologie wurden fortan neben dem Geschlecht, dem Alter und der Ethnie auch die Familie, die Generation oder die Region. Diese breitere Kontextualisierung der sozialen Ungleichheit setzte sich in der vierten und letzten Phase mit der "kulturalistischen Wende" weiter fort, die mit einer Lebensstilanalyse die Begriffe Individualisierung, Pluralisierung, Lebensstil und Klasse in die Diskussion einbrachte. Seit dieser Zeit, so Wehler, würden sich Forschung sowie gesamtgesellschaftliche Debatten vorrangig an der Beckschen Vorstellung einer "Risikogesellschaft" abarbeiten. In jüngster Zeit könnte den aufmerksamen Zeitungsleser das Gefühl beschleichen, das Thema der sozialen Ungleichheit durchlebe eine mar-kante Perspektiverweiterung. Es spricht gar einiges dafür, nun möglicher-weise von einer fünften Phase zu sprechen. Denn das 2013 erschienene Buch von Thomas Piketty erneuerte die Diskussionen über die Vermögensverteilung und setze, so der Deutschlandfunk, eine "Pikettymania" frei, die den Franzosen als "Popstar der Wirtschaftswissenschaften" feiere. Der Ökonom, der eine Untersuchung der Vermögensverteilung seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart vornimmt, kommt zu dem zentralen Befund, dass insbesondere seit den 1970ern von einer oligarchi-schen Verteilung des Reichtums zu sprechen sei. Diese Art Refeudalisie-rung prägt, lautet eine seiner zentralen Thesen, bis heute die soziale Realität und strukturiert wiederum auch aktuelle gesellschaftliche Diskussionen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Hans-Ulrich Wehler in seinem Buch über die "Neue Umverteilung". Angesichts gegenwärtig zu beobachtender "Formen krasser Ungleichheit", durch die Lebenslage vieler "Hartz-IV"-Empfänger einerseits und "obszöne" Managergehälter andererseits versinnbildlicht, dürfte, so Wehlers Prophezeiung, die soziale Frage eines der Kernthemen zukünftiger gesellschaftlicher Debatten werden. Piketty und Wehler gehen in ihren Analysen einen neuen Weg, indem sie die beiden Pole sozialer Ungleichheit gemeinsam in den Blick nehmen. Das Forschungsfeld zur sozialen Ungleichheit war bisher nämlich in auf-fälliger Weise separiert: Zwar entwickelte sich seit Mitte der 1990er Jahre eine soziologische Vermögensforschung, die jedoch ohne fundierte historische Tiefenbohrung die zeitgenössische Bewertung von Reichtum in den Blick nahm. Die Geschichtswissenschaft hat den Sozialwissenschaften dabei auch keinerlei Schützenhilfe geleistet, sondern sich in der Untersuchung des Sozialphänomens auffällig zurückgehalten. Auch wenn sich die Bürgertums- und Adelsforschung bereits mit sozialen Praktiken von Reichen beschäftigt hat, ist die Frage nach der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Legitimation des Vermögens bislang nicht gestellt worden. Es muss vielmehr konstatiert werden, dass das historische Wissen über das Sozialphänomen Reichtum bis heute marginal ist. Die ersten wissenschaftlichen Studien - zunächst vor allem aus der Soziologie und Ethnologie - lieferten abseits der Ergebnisse zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand wichtige Hinweise auf Begriffe und Problemfelder von Reichtum, die jedoch einer historischen Überprüfung bedürfen. Dominant in der gesellschaftlichen Wahr-nehmung von Reichtum waren weitaus stärker die medialen Aneignungen, die gerade in der letzten Zeit eine Renaissance erleben. Neben der zahlrei-chen populärwissenschaftlichen Literatur zu reichen Familien(-dynastien) legte der Spiegel seine Mitte der 1960er Jahre publizierte Serie "Die Reichen in Deutschland" in den 2010er Jahren erneut auf, und zwar unter dem Titel: "Deutschland - deine Reichen". Trotz der zeitlichen Differenz von fast einem halben Jahrhundert kommt das Nachrich-tenmagazin zu einer ganz ähnlichen Pointe: Die deutschen Reichen besit-zen ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Reichtum: Zeigen und Verber-gen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit charakterisieren hierzulande in Me-dien und Öffentlichkeit die Inszenierungen von Wohlstand, Vermögen und Besitz. Dieser Befund gilt jedoch nicht nur für das obere Prozent der deutschen Gesellschaft, sondern muss als wichtige Untersuchungsperspektive zeitgenössischer Konstruktions- und Wahrnehmungsmuster der sozialen Ungleichheit generell verstanden wer-den. So greift das noch näher zu diskutierende Wechselspiel aus Sicht-barkeit und Unsichtbarkeit auch bei einer Geschichte der Armut in auffälliger Weise. "Armut" wurde als soziale Erscheinung in der Bundesrepublik journa-listisch etwa zeitgleich, im Gegensatz zum Gegenstand Reichtum jedoch noch früher wissenschaftlich "entdeckt". Viele dieser Untersuchungen forcierten nicht nur im Zuge der "Neuen Sozialen Frage", sondern auch etwa zehn Jahre später während der Debatte um die "Neue Armut" die Politisierung des Sozialen. Doch erst ab den frühen 1990er Jahren setzte eine retrospektiv-bilanzierende Beschäftigung mit dem Sozialphänomen in der bundesdeutschen Geschichte ein, zur selben Zeit also, wie dies auch für Reichtum zu konstatieren ist. Vorrangig aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wurde seinerzeit dem öffentlichen Stellenwert und den unter-schiedlichen Wahrnehmungsformen von Armut im historischen Verlauf nachgespürt. Die Studien grenzen aber den Gegenpol Reichtum größten-teils aus. Gleiches lässt sich für die in letzter Zeit auch von Seiten der Geschichtswissenschaft vorgelegten Vorschläge zur Historisierung bun-desdeutscher Armut bzw. Armutswahrnehmung festhalten. Eine zusammengedachte Geschichte, die die soziologisch-theoretischen Reflexionen über soziale Ungleichheit historisch ergänzt und die beiden Seiten...

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