Beschreibung
Wir Menschen sind heute nicht mehr die Einzigen, die lesen und schreiben - Computer tun es auch. Nach Jahrtausenden des Monopols über die Schrift mussten wir diese Bastion im 21. Jahrhundert räumen - eine Entwicklung, die Douglas Engelbart, der Erfinder der Computermaus, schon 1968 vorhergesehen hat. Henning Lobin zeigt, wie sich Lesen und Schreiben ändern, wenn der Computer uns diese Kulturtechniken immer mehr abnimmt. Wie wirkt sich dies auf Bücher, Bibliotheken und Verlage, auf Schule und Universität, auf Presse und Zensur aus? Welche künftigen Veränderungen auf dem Weg hin zu einer 'Digitalkultur' lassen sich voraussagen? Wie können wir verhindern, dabei zum Spielball der technischen Evolution zu werden? Engelbarts Traum muss heute neu gedeutet werden, soll er sich nicht in einen Albtraum verwandeln.
Autorenportrait
Henning Lobin ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim und Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Mannheim.
Leseprobe
1 Ein Traum wird wahr Auf der gemeinsamen Herbsttagung der amerikanischen Informatiker im Jahr 1968, der Fall Joint Computer Conference in San Francisco, ist für den Nachmittag des ersten Tages, den 9. Dezember, etwas Besonderes vorgesehen. Dr. Douglas C. Engelbart vom Stanford Research Center in Menlo Park, knapp 50 Kilometer vom Tagungsort entfernt, soll anderthalb Stunden über sein "Forschungszentrum zur Erweiterung des menschlichen Geistes" reden. Auch wenn dieser Titel perfekt zur damals in Kalifornien gerade entstehenden Hippie-Kultur zu passen scheint, erwartet die etwa 2.000 Zuschauer in der verdunkelten Brooks Hall, einem der größten Säle des die Tagung beherbergenden Convention Center, eine High-Tech-Show, wie man sie noch nicht gesehen hat. An der Stirnseite des Saals findet sich eine sechseinhalb Meter breite Videoprojektion und statt eines Rednerpults rechts auf der Bühne ein Stuhl, vor den eine Art Kontrollpult geschwenkt werden kann, ausgestattet mit einigen merkwürdigen Geräten: Die Schreibmaschinentastatur kennen die an der Tagung teilnehmenden Computerwissenschaftler von ihren eigenen Rechnern. Die Geräte rechts und links daneben sind ihnen dagegen fremd. Das Teil auf der linken Seite besteht aus fünf Tasten und nennt sich "Akkord-Tastatur" (Chord Keyset). Die Tasten sind sowohl einzeln mit Zeichen belegt als auch untereinander verknüpft, so dass sich eine Vielzahl von Eingabemöglichkeiten ergibt - wie Akkorde auf dem Klavier. Auf der rechten Seite befindet sich ein kleines Kästchen mit drei Tasten, das hin- und hergeschoben werden kann. "Ich weiß nicht, warum wir es Maus nennen. Es fing einfach so an, und wir änderten es nicht mehr", sagt Engelbart dazu etwas später. Beide Eingabegeräte lassen sich gut miteinander kombinieren: die linke Hand auf den Tasten der Akkord-Tastatur, die rechte auf der Maus, der Blick auf den Fernsehmonitor davor gerichtet. In der hundert Minuten dauernden Demonstration ist der Leiter des 17-köpfigen Forschungsteams immer wieder in dieser Haltung zu sehen, in weißem Hemd mit dunkler Krawatte und mit einem erstaunlich modern wirkenden Headset auf dem Kopf. Hin und wieder blickt er nach rechts oben, um die korrekte Funktion der Videoprojektion zu überprüfen. Ganz ähnliche Bilder aus dem Kontrollzentrum der ersten Mondlandung, der Mission Control, sollten nur wenige Monate später auf der ganzen Welt zu sehen sein. Engelbart hatte nach seiner Zeit als Marinetechniker im Zweiten Weltkrieg die Idee verfolgt, einen Radarbildschirm mit einem Computer zu verbinden, um darauf Schriftzeichen und Liniengrafiken anzeigen und den Computer interaktiv, ohne das langwierige Einlesen von Lochkarten, nutzen zu können. 1968 gab es zwar schon Computer, die den interaktiven Betrieb mehrerer Benutzer ermöglichten, allerdings erfolgte die Ausgabe des Computers dabei ausschließlich über Drucker. Engelbart und sein Team "druckten" die Ausgabe stattdessen auf einen Radarbildschirm, wo sie zudem veränderlich war - Fernsehbildschirme erlaubten noch keine Textdarstellung. Leider waren Radarbildschirme ausreichender Größe immens teuer und flackerten sehr, da sie nach einem anderen Prinzip arbeiten als Fernsehmonitore. Die Lösung, die auch bei der Demonstration 1968 schließlich angewandt wurde, war die: Man verwendete einen kleinen, billigeren Radarbildschirm und ließ dessen Bild von einer Fernsehkamera aufnehmen. Das Bild konnte dann auf einen oder mehrere größere Fernsehmonitore oder eben auf die Großleinwand übertragen werden. Dabei wurde es farblich umgedreht, so dass schwarzer Text auf weißem Grund erschien, und auch das Flackern war verschwunden. Staunend erleben die Zuschauer an jenem Dezembernachmittag, wie ein Text auf dem Bildschirm durch Löschen, Einfügen und Verschieben von Wörtern verändert wird, wie zwischen verschiedenen Darstellungsarten hin- und hergeschaltet und mit der Maus ein Wort angeklickt werden kann, um eine andere Textdatei zu öffnen, die dann auf dem Bildschirm erscheint - das Anklicken eines Hyperlinks. Engelbart demonstriert mit seinem wichtigsten Mitarbeiter William K. English sogar, wie man gemeinsam einen Text bearbeiten kann - gleichzeitig! English sitzt dabei im Labor des Teams in Menlo Park, von wo aus er nicht nur per Video- und Audioleitung live in das Convention Center zugeschaltet ist, sondern auch über eine eigens eingerichtete Funkdatenleitung. Die Demonstration zeigt somit erstmals auch die kooperative Nutzung des Computers und eine Videokonferenz. All das war mit ungeheurem technischem Aufwand umgesetzt und sollte die Ergebnisse von fast zehn Jahren Entwicklungsarbeit dokumentieren. Engelbarts Demonstration kann zugleich als die erste computerbasierte Präsentation gelten, da er das vorgestellte Textverarbeitungs- und Hypertextsystem namens "Online-System", kurz NLS, wiederum zur Unterstützung seiner Ausführungen verwendet. Überhaupt verfolgt das ganze Projekt einen evolutionären Ansatz: NLS selbst wird für die Präsentation, für die technische Weiterentwicklung und für das Management des Projekts eingesetzt. So demonstrieren Engelbart und seine per Video zugeschalteten Mitarbeiter auch, wie sie mit Hilfe des Systems Textnachrichten verschicken, verschiedene Programmversionen verwalten und eine Hypertext-Dokumentation pflegen. Man hofft, das System durch den Einsatz im eigenen Team und die Nutzungserfahrungen, die dadurch gewonnen werden, nach und nach immer besser an die Arbeitsvorgänge anpassen zu können. Nachdem Engelbart am Ende seinen Mitarbeitern und schließlich seiner Frau und den Töchtern gedankt hat - ihnen widmet er die Demonstration -, erhebt sich der Applaus. Es ist der Höhepunkt seiner Tätigkeit als Computerentwickler, vielleicht seines Lebens überhaupt. Nur wenige Zeit später ziehen sich einige Geldgeber aus seinem Forschungszentrum zurück, eine breitere Nutzung von NLS im entstehenden Internet wie auch die Kommerzialisierung gelingen nicht. Engelbarts Ideen aber wirken fort. Einige Mitarbeiter des zerfallenden Teams wechseln zur Firma Xerox, die sich in einem Forschungszentrum in der Nähe mit Büroautomation befasst. Von ihnen wird in Fortführung des Engelbart-Projekts 1973 der erste Personal Computer vorgestellt, der eine grafische Benutzeroberfläche besitzt, der Alto. Eines der wenigen Exemplare, die nie in den Handel gelangt waren, bekommt dort ein junger Firmengründer zu sehen, dessen Vision es ist, billige und vor allem leicht bedienbare Computer für normale Menschen herzustellen, Steve Jobs. Er ist fasziniert von dieser ganz anderen Art, einen Computer zu bedienen. 1983 bringt seine Firma Apple den ersten kommerziellen Computer mit grafischer Benutzersteuerung auf den Markt, zu der auch eine Maus gehört, den Lisa.3 Ein Jahr später erscheint der wesentlich günstigere Macintosh und macht Jobs zum Milliardär.
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Entlastung oder Bedrohung?