Autorenportrait
François Lelord, geboren 1953, studierte Medizin und Psychologie und wurde Psychiater, schloss jedoch seine Praxis, um zu reisen und sich und seinen Lesern die wirklich großen Fragen des Lebens zu beantworten. Er lebt mit seiner Frau in Paris und Thailand. 2004 eroberte er sich mit seinem Bestseller »Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück« nicht nur in Deutschland ein Millionenpublikum. Weitere »Hector«-Bücher und zahlreiche andere Publikationen folgten.
Leseprobe
Der Oberkörper des Leibdieners war in einen weißen Spencer gezwängt, seine Beine jedoch umhüllte ein traditionelles Seidengewand. Er gab ihr ein Zeichen, und die junge Frau trat in das Halbdunkel. Am anderen Ende des Saales konnte sie die Umrisse einer Person erkennen, die unter einem Baldachin saß. Der Raum war fast leer, ganz nach den alten Gebräuchen, denn selbst bei den Königen hatten zum Sitzen, Essen und Schlafen stets Matten ausgereicht - bis die britischen Invasoren den Geschmack an Möbeln mitgebracht hatten. Nachdem sie einige Schritte getan hatte, kniete sie auf dem Rosenholzboden nieder, denn sie wusste, dass es sich nicht schickte, wenn sie auf ihren Gastgeber herabschauen konnte. Er war zwar kein König, verfügte aber über genügend Macht, um diese Geste der Unterordnung einfordern zu können, und außerdem war er zu alt, um noch zu merken, dass die Welt sich wandelte. Er machte ihr kein Zeichen, dass sie sich erheben durfte. Sie grüßte ihn, indem sie die Hände faltete und den Kopf senkte. 'Und?', fragte er. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, nur seine goldgerahmte Brille blitzte im Schein der einzigen, bei der Tür aufgehängten Lampe schwach auf. Es hieß, dass seine kranken Augen das Licht nicht mehr vertrugen. 'Wir arbeiten daran, mein Gebieter. Wir folgen der Spur des Geldes.' Sie vernahm einen verächtlichen Seufzer. Dann fuhr sie fort: 'Wir haben einen Informatiker von der Harvard University eingestellt, der auch für die amerikanische Regierung arbeitet.' 'Was soll das nützen? Dafür ist er zu clever.' Die junge Frau verspürte Genugtuung. Auch sie hielt das für unnütz. Wer imstande war, einer Bank solche Summen zu stehlen, wusste auch, wie man die Spuren hinter sich verwischt. 'Ich verfolge aber noch einen anderen Weg, mein Gebieter.' Er schwieg. Schließlich sprach sie weiter. 'Dieser Mann hat Freunde. Ich werde der Spur der Freunde folgen.' Diesmal konnte sie sein Lächeln ausmachen, das ebenfalls golden aufblitzte. 'Freunde', sagte er, 'Freunde sind eine Schwäche.' Sie dachte daran, wie viele seiner alten Freunde der General ins Gefängnis hatte werfen lassen, und sagte sich, dass ihm bestimmt kaum noch Schwächen blieben. Außer seinem Alter natürlich und dem unbändigen Gefallen, den er an Gold fand. __________________ Hector hat keine Zeit für seine Freunde Ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er alle übrigen Güter besäße. Aristoteles Es war einmal ein junger Psychiater namens Hector, der keine Zeit mehr hatte, seine Freunde zu sehen. Dass Hector keine Zeit für seine Freunde hatte, lag zunächst mal daran, dass er viel arbeitete und abends oft zu müde zum Ausgehen war. Außerdem war er inzwischen verheiratet und Vater eines kleinen Jungen, und da hat man nur noch selten die Gelegenheit, jemanden einfach so anzurufen und zu fragen: 'Wollen wir nicht einen trinken gehen?' Ganz davon abgesehen, dass unglücklicherweise auch die meisten seiner Freunde verheiratet waren - und manchmal waren ihre Frauen bezüglich Männerabenden, die bis tief in die Nacht gingen, nicht so verständnisvoll wie seine wunderbare Clara. Und außerdem war Hector noch eines aufgefallen: Je weiter man im Leben vorankommt, desto häufiger muss man zu Abendeinladungen mit Leuten gehen, die man nicht unbedingt zu seinen Freunden zählt. Solange man jung ist, kann man es so einrichten, dass man nur seine besten Freunde trifft und jede Menge Zeit mit ihnen verbringt - ein Glück, über das man sich übrigens genauso wenig im Klaren ist wie über das Glück, jung zu sein! Hector hatte auch festgestellt, dass das Thema Freundschaft, das für ihn eine Quelle des Glücks war, vielen seiner Patienten Kummer bereitete. So beispielsweise auch Julie. Julie war eine sympathische und aufgeschlossene junge Frau, die Freunde und vor allem Freundinnen hatte. Weshalb kam sie also zu Hector in die Sprechstunde? Julie war einfach ein bisschen zu sensibel. Sie war groß gewachsen und hatte einen rosigen Teint und