Beschreibung
Leben zwischen Friedhofsmauern - die Entdeckung einer tabuisierten Welt Reiseführer raten von einem Besuch der Totenstadt Imam-el-Shafi dringend ab, für die 18-jährige Mona jedoch ist dieser riesige Friedhof am Stadtrand von Kairo das Zuhause. Die Mausoleen bieten Unterschlupf für mehrere Zehntausend Ägypter, die kaum eine Chance haben, die ärmlichen Wohnverhältnisse je hinter sich zu lassen. Aber Mona träumt von einem anderen, besseren Leben, und als sie eine Arbeit im Stadtzentrum bekommt, will sie ihr Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen. Die illegale Besiedelung der Totenstadt wird zwar von offizieller Seite geduldet, doch deren Bewohner gelten beinahe als Aussätzige. Mona ist dort geboren und lebt mit ihren Eltern und sieben Geschwistern in drei winzigen Räumen eines Grabhofs. Ihre Gedankenwelt wird bestimmt vom Islam und einem fatalistischen Schicksalsglauben, ihre Zukunft sieht sie als Ehefrau und Mutter. Erst durch eine Arbeit in Kairos Geschäftsviertel lernt sie das westlich geprägte Zentrum von Afrikas größter Metropole und die Verlockungen der modernen arabischen Welt kennen. Aus Monas Tagebuchaufzeichnungen und intensiven Recherchen vor Ort erstellt Gerhard Haase-Hindenberg das authentische Porträt eines Mädchens, das zwischen zwei Welten pendelt. Zum ersten Mal berichtet ein Buch von der Lebenswirklichkeit in der Totenstadt, vom Denken und Fühlen seiner Bewohner, welches gleichermaßen von pharaonischer Tradition und islamischen Glaubenssätzen geprägt ist.
Autorenportrait
Gerhard Haase-Hindenberg, Jahrgang 1953, Studium an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Ost-Berlin. Er arbeitete als Schauspieler, Regisseur und Autor an Theatern in Nürnberg, München und Berlin sowie für TV- und Kinofilme. Regelmäßig publiziert er Reportagen und Interviews in der "Welt" und der "Berliner Zeitung". 2006 erschien bei Heyne "Göttin auf Zeit", 2007 "Der Mann, der die Mauer öffnete" und im Frühjahr 2008 "Das Mädchen aus der Totenstadt".
Leseprobe
Prolog Viele Menschen nennen das Gebiet, in dem ich aufgewachsen bin, die Totenstadt. So wird unser Viertel auch in den Reiseführern der Fremden genannt, die manchmal durch unsere Straße laufen. Das hat mir einer aus Europa erzählt, der mich sogar heiraten wollte, obwohl er mich gar nicht kannte. Nur, weil ihm meine Augen gefallen haben. Das hat er zumindest zu meinem Vater gesagt, der nicht eingewilligt hat. Natürlich nicht. Schließlich gehörte dieser Mann nicht zu unserer Religion. Deshalb konnte mein Vater auch nicht mit ihm die Al-Fatiha lesen. Da war ich froh, denn es war kein junger Mann. Totenstadt auch in Kairo nennen viele Leute das Gebiet hier draußen so. Weil sie ihre Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten in den Grabkammern unter unseren Höfen bestattet haben. Aber wenn sie zu uns herauskommen, um die Gräber ihrer Vorfahren zu besuchen, am Opferfest oder an anderen Feiertagen, sehen sie doch, dass es nicht nur eine Totenstadt ist. Denn wir leben ja hier. Hamdi, mein Vater, der ihnen die Gräber öffnet, wenn jemand gestorben ist. Der den Trauernden Wasser reicht und die Jungen holt, die die Koranverse rezitieren. Auch Nassra, meine Mutter, die meinem Vater acht Kinder geboren hat, von denen ich das älteste bin. Von vielen unserer Nachbarn haben schon die Großeltern hier gelebt. Es ist also nicht nur eine Totenstadt, sondern auch eine Stadt der Lebendigen. Und deshalb nenne ich sie nicht Totenstadt. Wenn mich jemand fragt, wo ich wohne, dann sage ich: »Im Gebiet um Imam Al-Shafi'i.« So heißt die Moschee am anderen Ende unserer Straße. Daneben und auf der anderen Seite dieser Moschee stehen mehrstöckige Häuser mit Wohnungen. Ich könnte ja auch dort leben, wenn ich sage, dass ich »im Gebiet um Imam Al-Shafi'i« wohne. Jedenfalls nennt kaum jemand, der hier draußen auf den Grabhöfen von Imam Al-Shafi'i lebt, unser Viertel Totenstadt. Als mir die obigen Sätze aus Monas »aufgeschriebenen Gedanken« übersetzt wurden, ahnte ich bereits, dass hinter den Zeilen in jenem abgegriffenen Heft mehr als eine erzählenswerte Lebensgeschichte steckt. Es war die ungewöhnliche Reflexion einer jungen Grabhofbewohnerin auf das eigene Schicksal, welches sie »Kismet« nannte. Drei Tage zuvor war ich mit meiner ägyptischen Mitarbeiterin Hoda Zaghloul hinausgefahren in jenes Gebiet, in dem auch deren Mutter begraben liegt, um für eine Reportage über die Totenstadt zu recherchieren. Ich hatte einen Reporter und einen Fotografen von Al Ahram dabei, Ägyptens großer Tageszeitung, die mir bei dieser Recherche behilflich sein wollten. Schließlich wusste ich um das Misstrauen der Grabhofbewohner gegenüber jenen Fremden, die exotisch finden, was für die Menschen in der Totenstadt alltägliche Normalität bedeutet: das Wohnen in kleinen Räumen oberhalb der Grabkammern oder auch in geräumigen Mausoleen. Kurzum: das Leben auf einem Friedhof. Aber ich konnte nicht ahnen, dass ich eine junge Frau finden würde, die mir ihre außergewöhnliche Lebensgeschichte anvertrauen wird. Es kam mir also der Zufall zu Hilfe. Als wir den unbewohnten Grabhof von Hodas Familie verließen, stand ein Junge da und sah uns mit seinen schwarzen sentimentalen Augen an. Auf meine Frage, wer dieses Kind sei, erklärte mir Tarek - der in diesem Gebiet staatlicherseits eingesetzte Grabmeister -, dass dessen Name Mahmoud sei und er mit seiner Familie auf einem Grabhof in der Nähe wohne. Wir begleiteten den Achtjährigen nach Hause und wurden von dessen Eltern und Geschwistern sehr freundlich aufgenommen. Bald erzählten die Mädchen, dass ihre große Schwester gut singen könne, auch malen, und ihre Gedanken würde sie immer in ein Buch schreiben. Außerdem sei sie sehr schön, aber leider zurzeit nicht da. Sie arbeite in einer großen Bank in Kairo, sagte die siebenjährige Aya, und es war ihr anzumerken, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was genau eine Bank ist. Sie wusste auch nicht, welcher Art von Tätigkeit ihre Schwester dort nachging. Aber sie war voller Bewunderung für sie Leseprobe