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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446208261
Sprache: Deutsch
Umfang: 432 S.
Format (T/L/B): 3.4 x 21.8 x 15 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Orhan Pamuk, der 2006 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ergründet in Istanbul die Geheimnisse seiner eigenen Familie und führt uns an die verlorenen Paradiese der sagenhaften Stadt. Er beschreibt die verwunschenen Villen und verwilderten Gärten, die Wasserstraßen des Bosporus und des Goldenen Horns und die melancholischen Gassen der Altstadt. "Istanbul" ist ein Porträt der legendären Stadt an der Schnittstelle zwischen Ost und West und zugleich ein Selbstbildnis des Schriftstellers als junger Mann.

Autorenportrait

Homepage von Orhan Pauk (Englisch)

Leseprobe

Durch die fortwährenden Konkurse meines Vaters und meines Onkels, die Streitereien meiner Eltern und die Zwistigkeiten, die sich immer wieder zwischen unserer Kleinfamilie und dem von meiner Großmutter präsidierten Familiengroßverband ergaben, wurde mir allmählich beigebracht, daß das Leben nicht nur aus freudigen Ereignissen und immer neu sich auftuenden Glücksquellen (Malen, Sexualität, Freundschaft, Schlaf, Geliebtwerden, Essen, Spielen, Beobachten) bestand, sondern auch aus einer ganzen Anzahl urplötzlich ausbrechender kleinerer und größerer Katastrophen. In meiner Kindheit wurde am Radio nach den Nachrichten und dem Wetterbericht immer mit ernster Stimme nicht nur den betroffenen Seeleuten, sondern ganz Istanbul verkündet, auf welchem Längen- und Breitengrad an der Mündung des Bosporus ins Schwarze Meer Treibminen gesichtet worden seien, und so heimtückisch wie diese Minen waren auch die Katastrophen, die den Menschen jederzeit völlig überraschend ereilen konnten. Es konnte jeden Augenblick zwischen meinen Eltern ein Streit ausbrechen, mit dem Stockwerk über uns eine finanzielle Auseinandersetzung aufflammen oder mein Bruder über irgend etwas so in Zorn geraten, daß er mir eine gehörige Lektion erteilen wollte. Oder mein Vater kam eines Tages nach Hause und teilte uns im selben Ton, in dem er eine Reise erwähnt hätte, seelenruhig mit, daß unsere Wohnung verpfändet worden sei und wir nun umziehen müßten. Wir zogen damals oft um. Bei jedem Umzug stieg die Spannung im Haus an, und meine Mutter, vollauf damit beschäftigt, jeden Teller und jede Schüssel einzeln in Zeitungspapier einzuwickeln, konnte auf uns Kinder nicht so achtgeben wie sonst, so daß wir nach Herzenslust spielen durften. Wenn dann die Büfetts, Schränke und Tische, die uns als unverrückbare Elemente unserer Wohnszenerie gegolten hatten, von den Möbelpackern nach und nach abtransportiert wurden, blickte ich traurig auf die immer leerer werdenden Räume, in denen wir Jahre unseres Lebens verbracht hatten, aber ein Trost war mir, daß ich meist unter irgendeinem Möbel einen längst vergessenen Stift, eine Murmel oder ein geliebtes Spielzeugauto wiederfand. In manchen der Wohnungen, in die wir zogen, herrschte vielleicht nicht der Komfort, den wir vom Pamuk Apartmaný in Nisantasý her gewohnt waren, aber man hatte dafür - in Cihangir und Besiktas - einen phantastischen Ausblick auf den Bosporus, so daß mich diese Umzüge nicht weiter betrübten und mir unser gesellschaftlicher Abstieg gar nicht richtig auffiel. Außerdem hatte ich ja gegen die Wechselfälle des Lebens so meine Mittelchen parat. Sie beruhten auf einer ganz bestimmten Logik, in der es darauf ankam, einer festen Ordnung entweder durch systematische Wiederholung symbolisch treu zu bleiben (nicht auf bestimmte Linien treten, manche Türen nie ganz zumachen) oder ganz im Gegenteil radikal davon abzuweichen (mich mit dem anderen Orhan treffen, mich in die andere Welt flüchten, malen oder mit meinem Bruder einen Streit vom Zaun brechen und damit selbst eine Katastrophe auslösen), und eine dieser Methoden bestand darin, die durch den Bosporus fahrenden Schiffe zu zählen. Dieses Schiffezählen betreibe ich seit jeher. Ob rumänische Öltanker, sowjetische Kreuzer, Fischkutter aus Trabzon, bulgarische Passagierschiffe, Schwarzmeerschiffe der Türkischen Schiffahrtsgesellschaft, sowjetische Beobachtungsschiffe, elegante italienische Ozeandampfer, Kohlenfrachter, Küstenfahrzeuge aus Varna, verrostende Frachtschiffe, verrottende, flaggenlose dunkle Schiffe: ich zähle sie alle. Was ich hingegen nicht zähle, sind die Motorboote, mit denen Beamte und Hausfrauen mit Einkaufsnetzen sich von einem Ende des Bosporus zum anderen bringen lassen, und die Stadtdampfer, auf denen in sich versunkene Fahrgäste rauchen und Tee trinken, denn die kenne ich mittlerweile so gut wie seinerzeit mein Vater, und so wie das Mobiliar in unserer Wohnung gehören sie unzertrennlich zu meiner Welt. Ich zählte die Schiffe aus irgendwelchen Befürcht Leseprobe

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