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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446202634
Sprache: Deutsch
Umfang: 184 S.
Format (T/L/B): 1.6 x 21 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Brillant, inspiriert und kenntnisreich enthüllt Calasso das göttliche Raunen, das sich hinter der besten Poesie, der schönsten Prosa, verbirgt und weiht uns ein in das Geheimnis aller großen Literatur. Er führt in das Reich von Dionysos und Orpheus, von Baudelaire, Novalis, Mallarmé und Hölderlin und zeigt, dass sich die Geschichte der Götter auch lesen lässt als eine verschlüsselte, großartige Geschichte der Literatur.

Autorenportrait

Roberto Calasso, 1941 in Florenz geboren, lebt als Schriftsteller und Verleger des Adelphi Verlags in Mailand. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen zuletzt: Der Traum Baudelaires (2012) und Glut (2015). 

Leseprobe

Die Götter sind flüchtige Gäste in der Literatur. Sie durchziehen sie mit der Spur ihrer Namen. Aber sie verlassen sie auch bald. Jedesmal wenn der Schriftsteller zu einem Wort ansetzt, muß er sie zurückgewinnen. Die quecksilbrige Art, die die Götter ankündigt, ist auch das Zeichen ihrer Ungreifbarkeit. Das ist nicht immer so gewesen, zumindest so lange nicht, als es eine Liturgie gab. Das Geflecht von Gesten und Worten, die Aura kontrollierter Zerstörung, der Gebrauch bestimmter Stoffe, aber anderer nicht: das stellte die Götter zufrieden, solange die Menschen es für richtig hielten, sich an sie zu wenden. Später blieben dann nur, wie verwehte Fetzen in einem verlassenen Lager, jene Geschichten der Götter zurück, die von jeder Geste mitgemeint waren. Aus ihrem Boden gerissen und dem grellen Licht im Vibrieren der Worte ausgesetzt, mochten sie wohl auch unverschämt und leer erscheinen. Am Ende wird alles Literaturgeschichte. Weitschweifig und nichtssagend wäre es daher, wollte man die Augenblicke nennen, in denen sich, seit den Frühromantikern, die griechischen Götter in den Versen der modernen Dichtung zeigen. Fast alle Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, von den mittelmäßigsten bis zu den sublimen, haben irgendwann ein Gedicht geschrieben, in dem die Götter genannt werden. Das gleiche gilt für einen großen Teil der Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts. Warum? Aus den verschiedensten Gründen: aus jahrhundertealter Schulgewohnheit, vielleicht aber auch, um vornehm, exotisch, heidnisch, erotisch oder gelehrt zu erscheinen. Der häufigste Grund war allerdings tautologisch: um poetisch zu erscheinen. Ob in einem Gedicht Apollo oder eine Eiche oder der Meeresschaum erwähnt wird, macht keinen großen Unterschied und will auch nicht viel sagen: Es sind allemal Ausdrücke des literarischen Wortschatzes, gleichermaßen abgeschliffen durch den Gebrauch. Es gab aber eine Zeit, in der die Götter nicht in erster Linie eine literarische Gewohnheit waren, sondern ein Ereignis, eine plötzliche Erscheinung, wie das Zusammentreffen mit einem Banditen oder das Sichabzeichnen eines Schiffes. Und es brauchte nicht einmal der vollständige Anblick zu sein. Aiax Oileus erkennt den als Kalchas verkleideten Poseidon, als er ihm nachsieht, am Gang: er erkennt ihn ''an den Füßen, an den Beinen''. Da für uns alles mit Homer beginnt, fragen wir uns: Wie wird in seinen Versen dieses Ereignis benannt? Als der Trojanische Krieg ausbricht, lassen die Götter sich auf der Erde schon viel seltener blicken als in älterer Zeit. Eine Generation früher hatte Zeus noch mit einer Sterblichen Sarpedon gezeugt. Und für die Hochzeit von Peleus und Thetis waren alle Götter zur Erde herabgekommen. Nun zeigt Zeus sich nicht mehr bei den Menschen, er schickt andere Olympier zur Erkundung aus: Hermes, Athene, Apollo. Die Götter zu sehen ist mittlerweile schwierig geworden. Das stellt Odysseus fest, wenn er zu Athene sagt: ''Schwer ist&8217;s, Göttin, dich zu erkennen, und wär&8217; man auch noch so verständig.'' Die nüchternste Formulierung finden wir in der Hymne an Demeter: ''Schwer zu sehen sind für die Menschen die Götter.'' Jede Ursprungszeit ist eine Zeit, in der es heißt, die Götter seien fast verschwunden. Nur wenigen durch göttlichen Willen Auserwählten zeigen sich die Götter: ''Nicht allen erscheinen die Götter in voller Klarheit'' (enargeîs), lesen wir in der Odyssee. Enarges ist der Terminus technicus für das göttliche Erscheinen: ein Adjektiv, das das Leuchten des ''Weiß'' (argos) in sich enthält, aber am Ende eine reine, unbezweifelbare ''Klarheit'' bezeichnet. Jene Art von Klarheit, die dann zum Erbteil der Dichtung wurde und vielleicht das Merkmal ist, wodurch sie sich von jeder anderen Form unterscheidet.

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