Beschreibung
Man wird es später einmal als einen der merkwürdigsten Züge im Gesamtbild unserer Zeit bezeichnen, daß mitten in den schwersten Kämpfen um das politisch-materielle Dasein des deutschen Volkes die Frage nach seiner geistigen Wesensart und seiner weltgeschichtlichen Bestimmung immer energischer und immer allgemeiner gestellt worden ist. Mehr und mehr macht sich die Überzeugung geltend, daß es sich in Fragen dieser Art und zu der Selbstbesinnung, zu der sie hinleiten wollen, nicht lediglich darum handelt, einen vorhandenen geistigen Besitz in theoretischer Reflexion festzuhalten und widerzuspiegeln, sondern, daß wir damit im eigentlichen Mittelpunkt der tätigen und produktiven Kräfte stehen, auf denen die künftige Gestaltung unseres Daseins wesentlich beruhen wird. Man mag diesen 'metaphysischen' Zug des deutschen Geistes rühmen oder schelten, bewundern oder verwerfen: er gehört in jedem Falle zu den bestimmenden und wirksamen Faktoren der deutschen Geschichte selbst, der an all ihren großen Wendepunkten in irgendeiner Form herausgetreten und sichtbar geworden ist. Der Text des vorliegenden Neusatzes folgt der zweiten Auflage 1918, erschienen im Verlag Bruno Cassirer, Berlin, die nur unwesentlich gegenüber der Erstausgabe von 1916 geändert wurde.
Autorenportrait
Ernst Cassirer (1874-1945) forschte und lehrte zunächst in Berlin, ab 1919 als Philosophieprofessor an der Universität Hamburg. 1933 wurde ihm als Juden dort der Lehrstuhl entzogen. Im selben Jahr verließ er das nationalsozialistische Deutschland und ging zunächst nach Großbritannien ins Exil, wenig später nach Schweden, wo er 1939 schwedischer Staatsbürger wurde, 1941 schließlich in die USA. In der Emigration war er Gastprofessor in Oxford, anschließend Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls in Göteborg und später Professor an der Yale-Universität und an der Columbia-Universität in New York. Die Philosophie Ernst Cassirers wird einerseits dem naturwissenschaftlich orientierten Neukantianismus der Marburger Schule zugeordnet. Über die Kategorie der symbolischen Formen und Themen der Sprachphilosophie nahm Cassirer aber auch Denkströmungen des 20. Jahrhunderts auf und formulierte eine eigenständige Kulturphilosophie, die im vorliegenden Band seine deutlichste Ausprägung findet.