Beschreibung
In dieser Nacht beginnt die Jagd. Auf ein kleines Päckchen, das den Größten im Staate zu stürzen vermag. Es wird niemand verschont in dieser blauschwarzen Nacht. 1875: Auf der Baustelle der Hohenschwangauer Neuen Burg (Neuschwanstein) stirbt der Bauführer durch einen Schuss ins Herz. Was die tatsächlich erhaltene Chronik des Dorflehrers nur knapp notiert, macht Markus Richter zum Ausgangspunkt eines atemlosen Verschwörungsabenteuers. Die jungen Hofbediensteten Lenz und Klara wollen sich in dieser Nacht näherkommen. Doch sie stolpern in eine mörderische Intrige. Als sie mit dem Mut der Verzweiflung eingreifen, werden sie selber zur Zielscheibe.
Autorenportrait
Markus Richter kennt alle Winkel im berühmtesten Schloss König Ludwigs II. Als Kastellan war er zuständig für alle Belange des täglichen Betriebes. Schon in den beiden Führern "Schloss Neuschwanstein" und "Heldensagen von Neuschwanstein" sowie der vielfach übersetzten Gespenstergeschichte "Ludwig und Poldi" (alle Top Spot Guide Verlag) hat er Erwachsenen und Kindern das Schloss nahegebracht. Längst blickt er tiefer: "Am 12. Juni 1886 wurde Ludwig II. von einer ,Fang-Kommission' in Neuschwanstein verhaftet. Dort eröffnete man ihm, dass er geisteskrank und somit regierungsunfähig sei. Für ihn war es der Ort, an dem er seine bittersten Stunden erlebte. All die Jahre, die ich auf Neuschwanstein gelebt und gearbeitet habe, fragte ich mich, ob ein Fluch darauf lastet. Ob der König etwas von seinem persönlichen Unglück zurückgelassen hat."
Leseprobe
Sie hatten sich tatsächlich verlaufen. Anfangs führte der Weg noch bergab. Jetzt ging es bergauf. Lenz schwante Übles. Wir sind hier falsch, oder?, kam ihm Klara zuvor. Lenz blieb stehen. Sein Knöchel schmerzte gewaltig und die Pause tat ihm gut. Wir haben die Abzweigung verpasst. Was meinst du? Sollen wir umkehren?, fragte er Klara. Dann laufen wir ihnen direkt in die Arme! Just in dem Moment als Klara das sagte, flackerte unterhalb von ihnen ein Licht auf. Die Männer waren zwar noch zu weit weg, um sie sehen zu können, aber sie folgten ihnen dicht auf den Fersen. Weiter, rasch! Aus Klaras Stimme sprach die pure Panik. Lenz wusste nicht, was ihr im oberen Burghof widerfahren war. Es musste schrecklich gewesen sein. Sie nahmen sich an den Händen und liefen weiter. Es fiel ihnen nicht leicht, sich im Dunkeln zu orientieren. Ihre Verfolger waren da mit ihrer Lampe klar im Vorteil. Lenz überlegte konzentriert, wo genau sie gerade liefen. Aber es gab keinerlei Anhaltspunkt. Die Nacht verschluckte alles. Den Gedanken, sich im Wald zu verstecken, gab er rasch auf. Er fürchtete, sie könnten in unwegsames Gelände geraten oder gar abstürzen. Wenn er sich nicht vollkommen täuschte, befanden sie sich irgendwo hinter der Baustelle auf dem Weg in Richtung Marienbrücke. Das Rauschen des Wasserfalls war jetzt gedämpfter zu hören. Vielleicht waren sie sogar schon hinter der Brücke. Dort schwächte ein Felsvorsprung das Tosen des Wassers ab. Über den Felsen führte der Weg zur Brücke hinauf. An dieser Stelle gab es einen Pavillon. Nur eignete der sich nicht als Versteck. Er war rundum offen und diente nur als Unterstand. Hier befand sich auch eine Weggabelung. Es ging zum Schweizer Haus in der Bleckenau, zum Säuling oder hinab ins Tal. Und Lenz wollte ins Tal. Er kannte sich hier oben gut aus. Aber bei Nacht wirkte alles ganz anders. Er konnte nicht sicher sagen, ob sie vielleicht schon an der Weggabelung vorbei gelaufen waren. Klaras Hand zitterte unaufhörlich in der seinen. Ich bringe uns sicher nach unten, das verspreche ich dir, versuchte er sie zu beruhigen. Anstelle einer Antwort drückte sie kurz seine Hand und seufzte. Lenz spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Es war alles seine Schuld. Wäre er nur kein solcher Aufschneider gewesen, bloß weil man ihm einmal eine wichtige Aufgabe übertragen hatte. Aber für solche Gedanken war es jetzt zu spät. Er musste dafür sorgen, dass Klara nichts zustieß. Da rissen die Wolken auf und das Mondlicht erhellte den Weg. Lenz erschrak. Jetzt wusste er, wo sie waren. Den Pavillon hatten sie längst hinter sich gelassen. Sie befanden sich auf dem Fußweg nach oben. Nur noch eine Biegung und sie stünden auf dem Vorplatz der Marienbrücke. Sie mussten sofort umdrehen. Er wollte nicht auf die Brücke! Von dort konnte man nur noch zum Tegelberg weiter. Das war bei Dunkelheit viel zu gefährlich. Zurück, Klara. Hier gehen wir nicht weiter!, sagte Lenz und machte kehrt. Doch da war wieder das Licht. Es war jetzt sehr nahe. Wahrscheinlich hatten die Verfolger Klara und Lenz schon entdeckt. Ich habe Angst, Lenz, schluchzte Klara. Der Weg zurück war ihnen versperrt. Es blieb ihnen keine andere Möglichkeit, als weiterzugehen. Sie mussten zur Brücke. Ich weiß, was wir tun werden. Vertrau mir, flüsterte Lenz und zog Klara mit sich. Er hatte eine Idee. Sie war verwegen und gefährlich, aber wahrscheinlich ihre einzige Chance. Sie durchschritten den mit dicken Bruchsteinen befestigten Korridor vor der Brücke. Wie mit einem heftigen Paukenschlag setzte das Tosen des Wasserfalls ein. Sein Vater hatte Lenz erzählt, dass zur Römerzeit genau hier oben ein Leuchtturm stand, der den Reisenden auf der Handelsstraße Via Claudia Augusta nachts eine Orientierungshilfe gab. So etwas hätten Klara und er vorhin gebrauchen können. Dann hätten sie sich nicht hierher verlaufen. Als sie die Brücke betraten, schwoll das Rauschen weiter an. Es klang in Lenz Ohren wie das Brüllen eines wilden, unbezähmbaren Tieres. Nicht, dass er je ein wildes Tier gehört oder gesehen hatte. Aber genau so musste es sein, wenn sich ein mächtiger Löwe vor einem aufbaute und brüllte. Die Bohlen der Brücke schwangen unter ihren Tritten hin und her. Von unten spritzte Gischt durch die Spalten zwischen den Brettern. Die Pöllat spülte Massen von Schmelzwasser aus den Bergen ins Tal. Dementsprechend kalt war der Luftzug auf der Brücke. Unter anderen Umständen wäre das nach dem schweißtreibenden Fußmarsch eine willkommene Abkühlung gewesen. Aber in dieser elenden Nacht fröstelte es Lenz. Sie hatten keinen Sinn für das atemraubende Panorama, das sich von hier oben bot. Die Baustelle wurde vom Mondlicht in ein gespenstisches Licht getaucht. Der Torbau war durch eine Baumgruppe größtenteils verdeckt. Nur einer der Türme ragte hell heraus. Auch den Giebel des Mitteltraktes, unter dem sich die Wohnung des Königs befand, konnte man erkennen. Der Mondschein wurde vom Kupferdach reflektiert. Es wirkte, als schwebe ein kleines Haus, wie von Geisterhand gehalten, direkt über den Baumwipfeln. Daneben thronte der eingerüstete Palas über dem blanken Felsen, ähnlich einer halb gefertigten Krone, und weit dahinter im Tal schimmerte der Lech, als ob er ein kitschiges Gemälde einrahmen wollte. Die Gischt spritzte Lenz ins Gesicht. Die Angst vor dem Abgrund unter ihnen, vor dem gefährlichen Weg zum Tegelberg mit seinen steilen Hängen, die im Dunkeln zur tödlichen Falle werden konnten, und die Panik, von den Verfolgern eingeholt zu werden, lasteten tonnenschwer auf seiner Brust. Am unerträglichsten war die Vorstellung, dass Klara etwas zustoßen könnte. Als sie die Brücke überquert und den Ausgang zum Tegelbergweg erreicht hatten, klebten ihm die Haare nass am Kopf. Wassertropfen perlten über seine Stirn. Auch Klara wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Hier beginnt der Weg zum Tegelberg. Aber ich kann nicht mehr weitergehen. Mein Knöchel, keuchte Lenz. Außerdem ist das ohne Licht viel zu gefährlich. Wir werden uns hier unten verstecken. Lenz deutete neben die Brücke. Ins Nichts. Aber., entgegnete Klara fassungslos. Bitte, vertraue mir. Dort werden sie uns nicht finden. Ich war schon etliche Male da unten. Er packte ihre Hand. Diesmal spürte er Gegenwehr. Natürlich war sie verängstig, aber sie hatten keine Wahl. Die Konstruktion der Marienbrücke war abenteuerlich und genial zugleich. Man hatte ihre beiden Hälften auf zwei Felsvorsprüngen verankert und in der Mitte verbunden. Es gab also je ein Plateau unter dem Zugang und unter dem Ausgang der Brücke. Genau auf einem dieser beiden Plateaus konnten sie sich jetzt verstecken. Die schwarzen Wolken drohten den Mond wieder zu verschlucken. Noch spendete er genug Licht, damit sie sicher hinunter steigen konnten. Sie kommen! Das reichte aus, um Klara zu überzeugen. Gefasst nickte sie ihm zu. Lenz griff mit der einen Hand nach dem Geländer der Brücke, mit der anderen half er Klara die Böschung hinab. Dann rutschte er auf dem Hosenboden hinunter und kam schließlich auf dem Fundament der Verankerung zum Stehen. Jetzt du. Ich fang dich auf. Klara zögerte. Am anderen Ende der Brücke wurde das Licht der Laterne sichtbar. Höchstwahrscheinlich hatten sie Klara längst entdeckt. Oder doch nicht? Rasch griff Lenz nach Klaras Fußknöcheln und zog sie zu sich herab. Erschrocken schrie sie kurz auf. Aber das konnten die Männer unmöglich gehört haben. Dazu war der Wasserfall viel zu laut. Lenz zog Klara ganz nah zu sich heran und presste seine Hand auf ihren Mund. Psssst, machte Lenz und sah ihr dabei fest in die Augen. Mit einem Mal wich die Anspannung aus ihrem Körper. Sie ließ sich mit Lenz gegen den eisernen Brückenbogen sinken. Jetzt konnten sie nur noch abwarten. Lenz wusste nicht, ob sein Herz so raste, weil sie in Gefahr waren oder weil er seine große Liebe in den Armen hielt. Seine Liebe! Diese Erkenntnis traf ihn völlig unvorbereitet, aber mit Gewissheit. Um sich dessen bewusst zu werden, hatte er sie erst in Gefahr bringen müssen. Sie in ...