Beschreibung
"Brill gelingt es, einen komplexen Prozess anschaulich zu machen, mit allen Nebenwirkungen und Exzessen: der ganze Kosmos im Kaff." Geo "Sehr anschaulich schildert der Autor, wie eine gewachsene Sozialstruktur verschwindet. In Alsweiler wird sichtbar, was Globalisierung bedeutet: Die Chinesen kaufen sogar die Eichen aus dem Saarland auf." Horst Hamm, natur & kosmos
Autorenportrait
Klaus Brill, geboren in Alsweiler/Saar, war Reporter der Nachrichtenagentur Reuters und gehört seit 1983 der Redaktion der "Süddeutschen Zeitung" an. Für sie war er als Korrespondent in Frankfurt, Hamburg, Rom und Washington tätig, ehe er für vier Jahre i
Leseprobe
Eines Tages, nach langen Vorarbeiten und Erwägungen, ging ich durch den Ort. Schon im Morgengrauen, als ich auf die Türschwelle meines Elternhauses trat und hinauf zum Schaumberg schaute, lag in der Luft das dumpfe Singen, das die Rotation von Autoreifen auf Asphalt erzeugt. Ein paar Vögel fingen an zu tschilpen, ein paar Fenster waren schon erleuchtet. Aus Kaminen stieg steil der Rauch, und hell hing noch der halbe Mond im Novemberfirmament. Bald darauf war im Tal ein einsamer, verdrückter Hahnenschrei zu hören, der keine Antwort erhielt und sich nur wenige Male wiederholte. Wann hat hier im Dorf zuletzt der Tag mit jenem auftrumpfenden, lärmenden Wechselgesang der Hähne begonnen, den ich drei Jahre zuvor im Urlaub auf einer Estancia in Uruguay zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder gehört hatte? Raureif lag auf den Gräsern am Pfädchen zur Birkenstraße, droben stand eine Frau und wartete darauf, abgeholt zu werden. Stumm lag zur Seite der Birkenhof, früher eine Gaststätte, später wohnten deutschstämmige Aussiedler aus der früheren Sowjetunion darin, jetzt waren es Wohnungen. Gegenüber stand das unscheinbare Haus der Telekom, eine Schaltstation für die Telefonverbindungen in alle Welt. Auf der Hauptstraße keuchte bremsend ein Lastwagen den Berg von Tholey herab, hinter ihm staute sich eine Pkw-Schlange. Außer mir ging niemand zu Fuß, aber vor dem Autohaus, das als ein blauer Klotz am früheren Standort der alten Schule liegt, ließ Heinz, der Seniorchef, der den Betrieb aus dem Nichts aufgebaut hatte, schon kurz nach sieben Uhr rollend das Garagentor herab und fuhr in einem Kleinwagen davon. Ich verließ die Hauptstraße und ging ins Tal hinunter zum Heggeborre, früher einer der Dorfbrunnen. Hier schäkerten vor Zeiten die jungen Männer, wenn sie am Bach die Kühe und die Pferde tränkten, mit den jungen Frauen, die hier das Wasser holten. Inzwischen hatte man dem Heckenborn einen neuen Trog gemauert, aber jetzt, im Herbst, lag Laub darin, kein Wasser rann, die Sitzbank war mit schwarzem Filzstift beschmiert. Es war morgenfeucht und novembergrau, aber noch nicht kalt. Kein besonderer Tag, dieser Freitag, er sollte es nach meiner Vorstellung auch ganz und gar nicht sein. Willkürlich hatte ich ihn ausgesucht, frei von aller Absicht, nur nach anderen Verpflichtungen im Terminkalender kalkulierend. Ich wollte mich dem Zufall überlassen, der Momentaufnahme und der beiläufigen Begegnung. Einfach einen Tag lang kreuz und quer durch die Straßen und die Fluren laufen und versuchen, das Dorf mit frischen Augen zu sehen. Das Dorf als Prinzip und als weltgeschichtliche Idee - das faszinierte mich. Immerhin lebte trotz rasch fortschreitender Verstädterung immer noch die Hälfte der Menschheit im Dorf, bis zum Jahr 2006 war es noch die Mehrheit gewesen. In Deutschland gibt es rund 30 000 Dörfer, in der EU mehr als 140 000. Für die ganze Welt wird ihre Zahl auf 1,5 bis drei Millionen geschätzt, davon je ein Drittel in China sowie in Indien-Pakistan-Bangladesch. Exakte Zahlen sind nicht aufzutreiben, auch nicht in Deutschland, und schon das belegt, dass diese Lebensform seit Langem zu den missachteten gehört. Als Reporter war ich durch viele Dörfer und Städte gelaufen. In Deutschland, in Skandinavien, Italien, Frankreich, Tschechien, auf dem Balkan, in den USA und anderen Ländern hatte ich etwas vom Leben ihrer Bewohner zu erfassen versucht. An der Donau in Rumänien hatte ich erst vor Kurzem bei einer Überschwemmung Dörfer gesehen, deren Einwohner sich noch aus den Erträgen von Ackerbau und Viehzucht rundum selbst versorgten und mit ihren Tieren eng in einer winzigen Hofstelle lebten, wie die Menschen in Alsweiler vor 100 Jahren. Und den Broadway, die 33 Kilometer lange Hauptstraße von New York City, hatte ich als eine Aneinanderreihung Hunderter von Dorfstraßen empfunden, wenngleich mir klar war, was unverwechselbar auch Stadt war an dieser Agglomeration. Und dass die Stadt als Organisationsmodell ihre eigene, größere Bedeutung für die Entwi