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Die Elenden von Lodz

Roman

Erschienen am 06.09.2011
Auch erhältlich als:
27,00 €
(inkl. MwSt.)

Nicht lieferbar

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608938975
Sprache: Deutsch
Umfang: 651 S.
Format (T/L/B): 4 x 22 x 15 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

'Die Elenden von Lódz' ist ein einzig artiger Roman mit vielen Stimmen. Er porträtiert neben der zentralen Figur Rumkowskis das Leben zahlreicher Gettobewohner und gibt ihnen so einen Namen und ein Schicksal. 'Wie ein Historiker beschwört Steve Sem-Sandberg die Vergangenheit herauf, wie ein Romancier erhöht er Geschichte ins Allgemeingültige - ein dokumentarischer Roman, der auf grandiose Weise die Stärken dieses Genres aufzeigt.' Ilija Trojanow Steve SemSandberg wurde für die 'Die Elenden von Lódz' mit dem schwedischen 'August-Priset' ausgezeichnet, der dem Deutschen Buchpreis entspricht.

Autorenportrait

Steve Sem-Sandberg, geboren 1958 in Oslo, ist einer der renommiertesten skandinavischen Autoren. Für den Roman 'Die Elenden von Lódz' bekam er den August-Preis verliehen. Sein neuer Roman 'W.' wurde von der schwedischen Presse gefeiert, gewann den Eyvind Johnson Prize 2020 sowie den Delblanc Preis 2021 und stand auf der Shortlist des August-Preises sowie des Preises des Nordischen Rates. Steve Sem-Sandberg lebt in Stockholm und wurde 2020 in das Komitee der Schwedischen Akademie gewählt.

Leseprobe

Prolog Der Judenälteste allein (1. 4. September 1942) Alles, was dir vor Handen kommt zu tun, das tue frisch; denn bei den Toten, dahin du fährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit. Prediger 9,10 Es war der Tag, für ewig ist er dem Gettogedächtnis eingegraben, als der Judenälteste der Menge mitteilen ließ, ihm bliebe keine andere Wahl, als die Kinder und Alten des Gettos gehen zu lassen. Noch am Nachmittag vor dieser Bekanntgabe hatte er in seinem Büro am Balucki Rynek gesessen und auf das Eingreifen höherer Mächte gewartet, gehofft, dass sie ihn retten mögen. Zu jenem Zeitpunkt hatte er sich bereits gezwungen gesehen, die Kranken des Gettos herzugeben. Nun standen nur noch die Alten und Kinder aus. Herr Neftalin, auf dessen Anordnung die Kommission ein paar Stunden zuvor erneut zusammengetreten war, hatte ihm versichert, dass alle Listen bis spätestens Mitternacht aufgestellt und der Gestapo übergeben sein mussten. Wie sollte er ihnen nur erklären, welch ungeheuerlichen Verlust das für ihn persönlich darstellte ? Sechsundsechzig Jahre lebe ich nun schon und bin des Glücks, mich Vater nennen zu können, noch immer nicht teilhaftig gewor­ den, und jetzt verlangen die Behörden von mir, dass ich all meine Kinder opfere. Hatte auch nur einer daran gedacht, wie es ihm in diesem Augenblick erging ? ('Was soll ich ihnen sagen?', hatte er Doktor Miller gefragt, als die Kommission am Nachmittag zusammengetreten war, und Doktor Miller hatte sein zerquältes Gesicht über den Tisch geschoben, und auch der seitlich von ihm sitzende Richter Jakobson hatte ihm tief in die Augen geblickt, und beide hatten übereinstimmend erklärt: Sag ihnen die Wahrheit. Wenn nichts anderes möglich ist, musst du ihnen die Wahrheit sagen. Aber wie kann es eine Wahrheit geben, wenn es kein Gesetz gibt, und wie kann es ein Gesetz geben, wenn es die Welt nicht mehr gibt?) Den Widerhall der Stimmen der sterbenden Kinder im Kopf, griff der Älteste nach dem Jackett, das Fräulein Fuchs für ihn am Haken an der Barackenwand aufgehängt hatte, führte den Schlüssel zittrig ins Schloss und bekam die Tür mit knapper Not auf, bevor ihn die Stimmen erneut überfielen. Doch vor der Tür seines Büros wartete kein Gesetz, auch keine Welt; nur jene, die von seinem persönlichen Stab noch übrig waren, ein halbes Dutzend übernächtigter Büroangestellter mit dem unermüdlichen Fräulein Fuchs an der Spitze, an diesem Tag ebenso proper wie stets gekleidet, in frischgebügelter, blau-weiß gestreifter Bluse, die Haare zum Knoten hochgenommen. Er sagte: Wenn der Herr die Absicht gehabt hätte, diese seine letzte Stadt unter­ gehen zu lassen, hätte er es mich wissen lassen. Oder mir zumindest ein Zeichen gegeben. Sein Stab aber starrte ihn nur verständnislos an: Herr Präses, sagten sie, wir sind bereits eine Stunde verspätet. An diesem Nachmittag war das Getto vollständig auf den Beinen. Obwohl die Leibwächter den größten Teil des Mobs auf Abstand halten konnten, war es ein paar grinsenden Flegeln gelungen, den Wagen zu entern. Er hatte sich ans Verdeck zurückgelehnt, nicht fähig, wie sonst mit dem Stock nach ihnen zu schlagen. Es war, wie böswillige Zungen schon seit längerem hinter seinem Rücken raunten: Mit ihm war es vorbei, seine Zeit als Getto-Präses war zu Ende. Im Nachhinein würden sie von ihm sagen, er sei ein falscher schofet gewesen, der die falschen Beschlüsse gefasst habe, ein eved hagermanim, der keinesfalls für das Beste seines Volkes gesorgt, sondern allein die eigene Macht und den eigenen Vorteil im Auge gehabt habe. Dennoch war es ihm nie um etwas anderes als das Beste des Gettos gegangen. Herr, wie kannst du mir das nur antun?, dachte er. Bei seiner Ankunft am Feuerwehrplatz warteten die Menschen bereits dichtgedrängt unter der glutheißen Sonne. Sie mussten seit Stunden hier gestanden haben. Sobald sie die Leibwächter erblickten, warfen sie sich wie eine Meute wildwütiger Tiere auf ihn. Im Vordergrund bildeten Polizisten eine Kette, hieben und prügelten mit Schlagstöcken auf die Menschenmassen ein, um sie zurückzutreiben. Doch genügte das nur schwerlich. Grinsende Gesichter blickten den Polizisten noch immer über die Schultern. Es war festgelegt, Warszawski und Jakobson als Erste reden zu lassen, während er selbst noch im Schatten des Podiums warten sollte, um den Schmerz über die harten Worte, die er ihnen würde mitteilen müssen, tunlichst zu lindern. Doch wenn es dann erst Zeit für ihn war, die provisorische, eigens errichtete Rednertribüne zu besteigen, gab es keinen Schatten mehr und auch kein Podium: nur einen simplen Stuhl auf einem wackeligen Tisch. Auf diesem schwankenden Grund würde er dann stehen müssen, während die widerwärtige schwarze Masse ihn aus der Schattentiefe des Platzes begaffte und verhöhnte. Er fühlte Entsetzen vor diesem wabernden Dunkelkörper, ein Entsetzen, das nichts von alledem glich, was er je zuvor empfunden hatte. Genauso, das wurde ihm nun klar, mussten es auch die Propheten empfunden haben, als sie vor ihr Volk traten; Hesekiel, der aus dem belagerten Jerusalem, der Blutstadt, über die Notwendigkeit sprach, den Ort von allem Übel und allem Unrat zu reinigen und jenen ein Zeichen auf die Stirn zu drücken, die sich noch immer zum rechten Glauben bekannten. Dann sprach Warszawski: Gestern erhielt der Präses die Order, mehr als zwanzigtausend Men­ schen zu evakuieren  darunter unsere Kinder und unsere Aller­ ältesten. Wie seltsam sich doch die Schicksalswinde drehen. Wir alle kennen unseren Präses! Wir wissen, wie viele Jahre seines Lebens, wie viel seiner Kraft, seiner Arbeit und Gesundheit er der Erziehung und dem Gedeihen jüdischer Kinder gewidmet hat. Und nun verlangt man ausgerechnet das von ihm, von IHM unter allen Menschen  * Oft hatte er sich vorgestellt, dass es möglich wäre, ein Gespräch mit den Toten zu führen. Nur jene, die bereits dem Eingesperrtsein entkommen waren, konnten sagen, ob er recht gehandelt hatte oder unrecht, als er diejenigen gehen ließ, für die es dennoch kein anderes Leben gegeben hätte. In der ersten schweren Zeit - als die Behörden soeben mit den Deportationen begonnen hatten - ließ er stets den Wagen vorfahren, um die Begräbnisstätte in Marysin zu besuchen. Endlose Tage Anfang Januar oder im Februar, als die Ebene um Lódz, die gewaltigen Kartoffel- und Rübenäcker, in feuchtkalte bleiche Nebelschleier gehüllt lag. Nach einer Ewigkeit war dann der Schnee geschmolzen und der Frühling ins Land gezogen, die Sonne stand so tief überm Horizont, dass die Gegend wie in Bronze gegossen schien. Jedes Detail trat im Gegenlicht hervor: die strengen Raster der Bäume vor den ockerbraunen Feldern, hier und da ein scharfer violetter Spritzer, ein Teich oder ein Bachbett, verborgen hinter der Wölbung des Flachlands. An solchen Tagen saß er zusammengekrümmt, reglos weit hinten im Wagen; vor ihm Kuper, dessen Rücken denselben Bogen beschrieb wie die Pferdepeitsche auf seinem Schoß. Jenseits der Absperrung stand einer der deutschen Wachtposten in feldgrauer Uniform stocksteif da oder ging rastlos vor seinem Schilderhäuschen auf und ab. An manchen Tagen blies ein kräftiger Wind über die offenen Felder und Wiesen. Der Wind riss Sand und lockeren Ackerboden mit sich, wehte auch Papierfetzen über Zaun und Mauern herein; und der wirbelnden Erde folgte stechender Sulfitgeruch von den Fabriken im Inneren von Litzmannstadt, wie auch das Gegacker des Federviehs und das Brüllen der Rinder von den polnischen Bauernhöfen im Umkreis. Dann ließ sich deutlich erkennen, wie willkürlich die Absperrung verlief. Der Wachtposten stand machtlos, stemmte sich gegen den hartnäckigen Wind, sinnlos klatschte ihm der Uniformmantel um Arme und Beine. Der Älteste aber saß weiter still und unbeweglich auf seinem Platz, während Sand und Erde um ihn stiebten. Ob ihn all das, was er sah und hörte, kümmerte, zeigte er nicht. Józef Feldman hieß ein Mann, der als Totengräber zu Baruch Praszkiers Friedhofskol... Leseprobe

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