Beschreibung
Warum erzeugt Gewalt wieder Gewalt? Warum geraten manche Menschen immer wieder in destruktive Paarbeziehungen, sei es als Opfer oder als Täter? Wie die Spirale der Gewalt in Gang gesetzt und aufrechterhalten wird, zeigt dieses Buch in differenzierter Weise. Gewalt in Paarbeziehungen ist ein ebenso weit verbreitetes wie tabuisiertes Phänomen in unserer 'zivilisierten' Gesellschaft. Einer großen Untersuchung nach hat jede vierte Frau schon einmal tätliche Übergriffe ihres Partners erfahren müssen. Und auch Männer haben offenbar reichlich unter häuslichen Aggressionen zu leiden; verbale und psychische Attacken überwiegen in diesem Fall die rein physische Gewalt. Das Buch beschäftigt sich mit der Entstehung und mit den Auswirkungen destruktiver Beziehungsmuster. Es zeigt, wie aus selbst erlebter Gewalt oder Vernachlässigung mit dem zentralen Gefühl der eigenen Machtlosigkeit Übergriffshandlungen auf spätere nahe Bezugspersonen hervorgehen. PsychotherapeutInnen und psychologische BeraterInnen, die mit einzelnen Klienten oder mit Paaren arbeiten, sollten die Mechanismen intimer Gewalt kennen, um wirksam behandeln oder beraten zu können.
Autorenportrait
Jochen Peichl, Dr. med., war bis Ende 2010 Oberarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Nürnberg und ist jetzt in freier Praxis und als Leiter des Institutes für Hypno-analytische Teiletherapie InHAT tätig. Weiterbildung u. a. in Traumazentrierter Psychotherapie und Ego-State-Therapie; aktuelle Arbeitsschwerpunkte in Theorie und Praxis: Borderline -Störungen, Trauma-assoziierte und dissoziative Störungen. www.jochenpeichl.de www.teiletherapie.de
Leseprobe
1. Destruktive Paargewalt: Zwischen ohnmächtiger Wut und wütender Ohnmacht Unter der Überschrift: 'Ein tagelanges Martyrium?, 36-Jähriger angeklagt, weil er seine Freundin gequält haben soll', schreibt die Gerichtsreporterin Gudrun Bayer in den Nürnberger Nachrichten vom 26. Juni 2007: 'Geschlagen, gefesselt, in der Wohnung eingesperrt und vergewaltigt soll ein 36-Jähriger seine zehn Jahre jüngere Freundin haben. Zum gestrigen Auftakt des mindestens zweitägigen Prozesses schwieg er.' Typisch Mann, hätte ich früher gedacht, und die Beschreibung hätte mich sofort mit dem Opfer mitfühlen lassen; der Täter, der Mann, hätte bei mir nur Abscheu und wenig Lust auf psychologische Einfühlung mobilisiert. Das Ende des Artikels war dann wieder etwas verblüffend: auch vorher habe er sie schon geschlagen, sagt die 26-Jährige dem Richter, der dann fragt, warum sie die Beziehung zu dem Zeitpunkt nicht beendet habe. Antwort: 'Ich habe ihn geliebt.' Dass Gewalt von Männern und Vätern ausgeht, so hatte ich in meiner 68er-Sozialisation in der Auseinandersetzung mit den Kriegsvätern gelernt und in meinen Psychotherapieausbildungen in Veranstaltungen mit einer Überzahl von Frauen unwidersprochen akzeptiert. Männliche Gewalt präge einseitig die Dynamik häuslicher Sozialisation - ich hatte den Prototyp des strengen Vaters, des strafenden Lehrers und auch des gewalttätigen, prügelnden Ehemanns in meinem männlichen Beziehungsrepertoire verinnerlicht. Die Frauen waren mehr oder weniger mütterlich, liebevoll und auch klug, aber niemals gewalttätig. Und wenn es zum Krieg kam, in diesem Nahbereich zwischen Tisch und Bett, dann stand die Diagnose von vornherein eindeutig fest: Die Männer waren die Täter und die Frauen die Opfer. Je mehr durch die feministische Bewegung in den USA und Deutschland das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern enttabuisiert wurde, umso genauer wurde zwar unser Blick auf die traumatisierenden Männer innerhalb und außerhalb der Familie, aber im Nebenblick auch auf die Frauen, die entweder das Geschehen zuließen, nicht eingriffen oder aber selbst, in einem erheblichen Maße, an körperlicher Misshandlung von Kindern in Familien beteiligt waren. Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass die gewohnte kausal-lineare Sichtweise, wie sie in der humanistischen Psychotherapieausbildung überwiegend als Denkschablone angeboten wurde, Schritt für Schritt durch eine eher zirkuläre, systemische Sicht in den 1980er-Jahren infrage gestellt wurde. Mit dieser Perspektive wurde es immer schwieriger, 'den Täter' und 'das Opfer' direkt und überzeugungssicher zu markieren, ohne sich den Kontext anzuschauen. Was mich selbst angeht, so nahm mir das Angebot von Hans-Joachim Lenz, in seinem Buch: 'Männliche Opfererfahrungen ', einen Beitrag aus der Sicht des Psychoanalytikers zu schreiben und an einem geplanten Symposium 1997 teilzunehmen, einen letzten Rest an Orientierung. Ich war gezwungen, mich mit der Tatsache, dass Männer auch Opfer und Frauen auch Täterinnen waren, auseinanderzusetzen und auch damit, warum ich - wie viele andere um mich herum - dieses so lange einfach verleugnet hatten. Damals schrieb ich: 'Die eigene therapeutische Arbeit in den Dienst weiblicher Gewaltopfer zu stellen, war für uns männergruppenerfahrene Männer sicher auch eine Möglichkeit, mit den eigenen gewalttätigen Fantasien fertig zu werden und uns so mit der guten mütterlichen Seite zu identifizieren. Wir waren Anwalt der Schwachen und somit unverdächtig' (2000, S. 309). Bei intensiver Beschäftigung mit dem Thema fiel mir in den Folgejahren immer deutlicher auf, dass es ein Hellfeld 1 der in Polizeistatistiken, Verbrechensstudien und Krankenhaus- und Gerichtsakten gezählten Gewalttaten im Nahraum gab, die die Zahlen eindeutig erscheinen ließen und meine bisherige Annahme der männlichen Täterschaft bestätigte. Hellfelddaten spiegeln aber nur denjenigen Teil häuslicher Gewalt wider, der staatlichen und nicht staatlichen Institutionen (z. B. Beratungsstellen, Frauenhäuser) bekannt wird, Fälle, bei denen das Opfer den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt hat oder wo die Folgen der Tat so verheerend waren, das eine Verheimlichung nicht möglich war (schwere Verletzungen, Straftaten). Daneben fanden sich aber die sogenannten Familienkonfliktstudien, die für die Zahlenerhebungen nicht die aktenkundigen Fälle, sondern repräsentative Statistiken und Populationsbefragungen mittels Fragebogen oder Interview heranzogen, und die ergaben ein abweichendes Bild. Abgesehen von den schweren und brutalen Gewalttaten mit hohem Verletzungs- und Mortalitätsrisiko in intimen Paarbeziehungen, die weiterhin männerdominiert blieben, gab es einen weiten Bereich 'mittlerer Gewalt', bei dem die meisten empirischen Untersuchungen insgesamt eine ungefähr gleich große Rate der Gewaltanwendung von Frauen und Männern in Lebensgemeinschaften und auch bei nicht zusammenlebenden Paaren ergaben. Dabei wurde unter anderem vermutet, dass die Dunkelziffer bei männlichen Opfern weiblicher Gewalt höher sein könnte als für den umgekehrten Fall, weil männliche Opfer häuslicher Gewalt weniger ernst genommen würden und deshalb die Hemmschwelle, sich als Opfer gegenüber Polizei und Hilfsdiensten zu ' outen ', vergleichsweise hoch sei. Dieses bestätigt auch eine Untersuchung von Ute Gabriel und Kolleginnen, die Geschlechtsunterschiede bei der moralischen Beurteilung von häuslicher Gewalt bei Studierenden untersuchten (2007). Ein Ergebnis war, dass häusliche Gewalt, die von einer Frau ausging, milder beurteilt wurde, als wenn diese von einem Mann ausgeübt wurde. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass sich die Frage nach dem Tätergeschlecht bei häuslicher Gewalt 'nicht auf die Frage nach dem Wer verhält sich wie häufig und mit welchen Konsequenzen wem gegenüber aggressiv ? begrenzen lässt: Die Wahrnehmung und Interpretation sozialen Geschehens wird wesentlich von unseren ggf. stereotypen Erwartungen beeinflusst' (S. 50). Die Wahrnehmung aggressiven Verhaltens von Frauen in intimen Paarbeziehungen unterlag in den letzten Jahrzehnten diesem Blick und wurde entweder bagatellisiert oder aus einer männlichen Perspektive bewertet (siehe dazu Cizek et al. 2001, S. 271 ff.). Je mehr man bereit ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und die von Frauen und Müttern zu verantwortende Gewalt ins eigene Blickfeld gerät und zu einer Stellungnahme herausfordert, umso mehr bemerkt man die zum Teil erbitterte Auseinandersetzung in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion. Bei dem Streit geht es um die Bewertung von Gewalt in der Mann-Frau-Beziehung und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen. Die häufig teils giftige und entwertend aufgeladene Stimmung bis in die jüngste Vergangenheit hinein ließ Unterschiede im wissenschaftlichen Diskurs zu Ideologiefragen verkommen, die dem Gegner, der Gegnerin wie ein nasses Handtuch um die Ohren gehauen wurde. Das Thema 'Gewalt, die von Frauen ausgeübt wird' hatte eine erstaunliche Potenz, eine anwesende Gesprächsrunde zu spalten, nicht nur auf Tagungen, sondern auch im Freundeskreis. Die meisten Kritikerinnen einer Geschlechtssymmetrie situativer Gewalt befürchteten, dass durch diese Diskussion das 'eigentliche Problem, die patriarchale Gewalt von Männern gegen Frauen', in dieser Gesellschaft relativiert werden könnte. Aber können wir nicht über das eine Tabuthema, die Ausübung von Macht durch Frau und Mann in intimen Paarbeziehungen, reden, ohne männliches Dominanzgebaren und Neigung zur grandiosen Selbstüberschätzung, dort, wo sie sichtbar und destruktiv wird, offen zu benennen? Diese beschriebene Galligkeit war noch in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts deutlich zu spüren, in den letzten Jahren scheinen mir die Empfindsamkeit auf beiden Seiten etwas relativiert und die Fronten abgerüstet. Zuerst einmal ein Blick auf die Fakten zum Thema 'Häusliche Gewalt ', die streng genommen bis heute gar keine ganz verlässlichen Fakten sind, denn in ihnen spiegeln sich nach wie vor die expliz...
Inhalt
1. Destruktive Paargewalt: Zwischen ohnmächtiger Wut und wütender Ohnmacht2. Gewalt in Paarbeziehungen2.1 Zwei Arten von Gewalt2.2 Was bedeuten Gewalt und Kontrolle?2.3 Ist Gewalt immer »männlich«?3. Die Spirale der Gewalt 3.1 Lenore Walker: Das Syndrom der geschlagenen Frau3.2 Kritik am » battered woman syndrome «3.3 Gewaltdynamik in Paarbeziehungen: auf der Suche nach den pathologischen Mustern auf beiden Seiten4. Die Erweiterung der Gewaltspirale: geschlechtsspezifische Muster 4.1 Männer in der Gewaltspirale4.2 Die Beeinflussung des Ablaufs der Gewaltspirale durch die Frau5. Der Mann als Gewalttäter: verschiedene Täterprofile 5.1 Die Untergruppen: deskriptive Dimensionen nach Holtzworth-Munroe und Stuart5.2 Entwicklungsmodell der verschiedenen Untergruppen von männlichen Gewalttätern5.3 Die Anwendung des Entwicklungs-Modells auf die vorgeschlagenen Untergruppen von Schlägern6. Die Frau als Gewalttäterin in der Intimbeziehung: Ein unvollständiges Mosaik 6.1 Patricia Pearson6.2 Erin Pizzey6.3 Frauengewalt, diesseits des familiären Terrorismus7. Unterscheiden sich die Aggressionen von Frauen und Männern? 7.1 Wütende Männer, wütende Frauen7.2 Geschlechtsspezifische Muster der Kommunikation7.3 Das » Frau-fordert Mann-zieht-sich-zurück «-Muster8. Der Kreislauf von Liebe und HassTeil 1: Vom Spannungsaufbau bis zum großen Knall8.1 Die Spirale der Gewalt: eine psychodynamische Sicht8.2 Die Spannungsaufbauphase: eine Beschreibung des Kampffeldes8.3 »Du verstehst mich nicht«: Jeder hat eigene Aktien im Spiel8.4 Wie Gewalttätigkeit ausbricht: Beschreibung einer allgemeinen Dynamik9. Der Kreislauf von Liebe und HassTeil 2: Von der Explosion über die Scham und Schuldsuche zur Liebe 9.1 Reue und Manipulationsphase9.2 Die Liebe kehrt zurück: die Honeymoon-Phase10. Die destruktive Paarbindung: Warum ist sie so stabil?10.1 Psychoanalytische Erklärungsmodelle10.2 Traumatische Bindung: Eine neurobiologische Perspektive des Problems10.3 Frühe Traumaerfahrung als zäher Kitt in gewalttätigen Bindungen von Erwachsenen11. Stress und Partnerschaft oder »Romeo und Julia streiten« 11.1 Die Geschichte von Romeo und Julia11.2 Eine psychodynamische Sicht11.3 Die Reaktion des autonomen Nerven systems auf Bedrohung: eine neurobiologische PerspektiveDankVerwendete AbkürzungenLiteratur
Schlagzeile
Die Suche nach tieferen Gründen bei 'Katastrophen-Paaren'