Beschreibung
Potestas (Macht) und "dominium" (Herrschaft) waren zentrale Begriffe der politischen Theorie des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts. Wie wurde Herrschaft damals begründet? Lässt sich in Europa in dieser Zeit - kurz nach der Wiederentdeckung der "Politik" des Aristoteles - die Herausbildung einer eigenständigen "politischen Wissenschaft" als Teildisziplin der praktischen Philosophie beobachten?
Autorenportrait
Matthias Lutz-Bachmann ist Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt am Main. Delphine Carron, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität Zürich. Anselm Spindler, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am SFB 1095 an der Universität Frankfurt am Main. Marco Toste ist wiss. Mitarbeiter am SFB 1095 an der Universität Frankfurt am Main.
Leseprobe
Politische Theorie und Praktische Vernunft: Thomas von Aquin als Kommentator und Kritiker der Politik des Aristoteles Matthias Lutz-Bachmann 1. Aristoteles gilt aus gutem Grund neben seinem Lehrer Platon als Begründer der Disziplin der Politischen Philosophie. Sie hat bis heute eine fortdauernde und grundlegende Bedeutung für unser Verständnis von Politik. Der Politischen Philosophie schrieb Aristoteles die Aufgabe zu, die Eigenart des menschlichen Handelns im komplexen Sozial- und Herrschaftsverband der griechischen Polis seiner Zeit näher zu bestimmen. Dabei versteht Aristoteles - anders als Platon - den Inhalt der Politischen Philosophie nicht als eine Gestalt von "spekulativer Theorie" (theoria), sondern vielmehr als ein "praktisches Wissen", als ein "Handlungswissen", das aus den Erfahrungen gewonnen werden soll, die die freien Bürger des griechischen Stadtstaats in der politischen Interaktion miteinander machen. Diesen Grundzug eines aus der Handlungserfahrung gewonnenen "praktischen Wissens" teilt die Politische Philosophie mit der Ethik (oder Moralphilosophie), von der Aristoteles sagt, dass sie, die Ethik, nur ein Teil der umfassenderen Doktrin der Politischen Philosophie sei. Der von der Ethik wie von der Politischen Philosophie insgesamt vertretene Typ des Wissens, das "Handlungswissen", unterscheidet Aristoteles scharf vom "theoretischen Wissen" der spekulativen Wissenschaften wie der Physik (also der Naturphilosophie), der Mathematik und der Metaphysik. Die Unterscheidung von "praktischem Wissen" und "theoretischem Wissen", von "Handlungswissen" und "Theoriewissenschaft" stützt Aristoteles auf wissenschaftslogische und erkenntnispsychologische Gründe, die ihn veranlassen, das Erkenntnis- und Wissenschaftsideal der platonischen Ideenlehre zu kritisieren. Diese habe nicht bedacht, dass das Erkenntnisprogramm der Ideenlehre im Fall der handlungsbezogenen Disziplinen scheitern muss, da die methodische Abstraktion von den konkreten Handlungssubjekten und den sich beständig ändernden Handlungsumständen, wie sie im rein begriffstheoretischen Zugriff der spekulativen Wissenschaftseinstellung unvermeidlich sei, die Theorie in die Irre führt. Dagegen stellt Aristoteles das Wissenschaftskonzept des "praktischen Wissens". Es zielt nicht auf eine Erkenntnis nach Art der exakten mathematischen Wissenschaft, sondern auf ein Typos- oder Grundriss-Wissen. Darunter versteht Aristoteles eine notwendigerweise eher allgemeine, nicht weiter präzisierbare Aussage zu häufig wiederkehrenden, aber keineswegs zwingenden Konstellationen, Handlungssituationen, Einstellungen von Handlungssubjekten und/oder Handlungsmaximen, die zu einer gewissen Verallgemeinerung Anlass geben. Diese Verallgemeinerung aber führt bei Aristoteles niemals zu einer Form von Wissen, dessen Resultat in irgendeiner Form Notwendigkeit beanspruchen könnte, somit auch keine notwendige Verpflichtung. Die aus der praktischen Erfahrung gewonnenen Einsichten verhelfen dem Handelnden aber nur dann zu einer Verbesserung seiner Praxis, wenn er bedenkt, dass sie der Komplexität und Konkretheit der wirklichen Handlungswelt nur näherungsweise entsprechen. Mit diesem Wissenskonzept des praktischen Wissens verbindet Aristoteles die Annahme eines dem "Gegenstand" dieses Wissens einzig adäquaten Präzisionsgrads. Die Vorstellung Platons aber, dass es in der Politischen Philosophie letztendlich darum gehen müsse, das "Ideal" eines gerechten Staatswesens zu beschreiben, dem wir in unserem politischen Handeln die richtige Orientierung entnehmen können, wird von Aristoteles abgewiesen. Ebenso kritisiert er die platonische Forderung, dass die Philosophen, die sich um die reine Theorie oder die Schau der Ideen bemühen, als die "Könige" den Staat lenken sollen. Nicht der Theoretiker, sondern der wohlberatene Praktiker soll Aristoteles zufolge in der Politik handeln. Und hierzu bedarf es einer von den Erfahrungen der Praxis ausgehenden und auf eine besser gelingende Praxis hinzielenden Disziplin, eben der Politischen Philosophie. Diese Sicht der Aufgaben und der Leistungsfähigkeit einer philosophischen Lehre von der Politik, die keine "wissenschaftliche Theorie" im strengen Sinn des Begriffs zu sein beansprucht, schließt bei Aristoteles keineswegs die Annahme bestimmter grundlegender Aussagen über das Handeln des Menschen in der Polis und deren Grundlagen in der teleologisch gedeuteten "Natur" des Menschen aus. Zu ihnen zählen etwa die Annahme im Ersten Buch der aristotelischen "Politik", dass der Mensch von Natur aus ein Gemeinschaftswesen sei, also ein Lebewesen, das eine "soziale Natur" besitzt und auf ein Leben mit anderen in einer gut organisierten, öffentlich verfassten städtischen Ordnung, der Ordnung des Politischen also, als Ziel der bestmöglichen Entwicklung des Menschen angelegt sei; oder die Aussage, dass es die spezifische Sprach- und Vernunftfähigkeit des Menschen ist, die ihn allererst politikfähig macht, also zu einem Handeln im öffentlichen Raum des Politischen befähigt - relativ unabhängig von seinem Agieren innerhalb der Familien- und Stammesgemeinschaften des Hauses oder des Dorfs. Aus diesen beiden grundlegenden Einsichten zieht Aristoteles den für die Geschichte der politischen Theorie wichtigen Schluss, dass der Mensch erst in der politischen Gemeinschaft in einem vollen Sinne "Mensch" sein kann, und das heißt für ihn, sein Leben in Form eines "guten" oder "geglückten Lebens" vollziehen kann. Dass die Politik in diesem Sinne zur "Natur" des Menschen gehört, versteht Aristoteles aber nicht als eine theoretische Definition des Menschen, sei es im Sinne einer die Gattungseigenschaften der Menschheit definierenden naturalistischen Biologie, sei es im Sinne einer Wesens- oder Substanzaussage der Metaphysik. Vielmehr handelt es sich für Aristoteles um eine Aussage, die aus der praktischen Selbsterfahrung der Menschen in ihrem Handeln hervorgeht und ein Ziel für das Handeln extrapoliert, das als eine im Detail notwendigerweise unbestimmt bleibende Perspektive Bedingungen für ein gelingendes Leben formuliert. Dieser teleologischen Zielbestimmung gibt Aristoteles keine normative Lesart. Das unterscheidet seine Theorie von der stoischen Ethik und Politik, die die Autoren des Mittelalters über die Interpretation des Augustinus und aus Cicero rezipieren. Daher beschreibt die Politische Philosophie bei Aristoteles auch nicht diejenigen Bedingungen, Handlungseinstellungen oder Tugenden, die sich die Menschen erarbeiten und die sie besitzen "sollen", sondern sie analysiert nur die Voraussetzungen, die bedacht und in aller Regel auch realisiert sein "sollten", um das von den Menschen stets erstrebte Lebensziel eines geglückten Lebens in der Polisgemeinschaft nicht zu verfehlen. Damit wird deutlich, dass der Kritik des Aristoteles an Platons Übertragung der Ideenerkenntnis auch auf den Bereich des menschlichen Handelns seine Kritik an einer starken deontologischen Morallehre oder Politischen Philosophie korrespondiert. Das "praktische Wissen", das Aristoteles sowohl für den Bereich der Ethik als auch für die umfassendere Lehre von der Politik entwirft, ist nicht präskriptiv im Sinne einer Theorie des unbedingt "Gesollten" oder auch nur des bedingt "Gebotenen", sondern es analysiert und definiert die allgemeinen Bedingungen, unter denen "in der Regel" ein gutes Leben des Menschen in der Gemeinschaft mit anderen erwartet werden kann. So bleiben auch die Einsichten der Politischen Philosophie des Aristoteles zurückgebunden an die stets vielfältigen und unterschiedlichen Situationen des Handelns, denen die Akteure ausgeliefert sind, die sie selbst auch zum Teil mitgestalten und denen die Aussagen der Politik entnommen sind. Diese Konstellation gestattet es sowohl der Ethik als auch der Politischen Philosophie, wichtige, durchaus auch verallgemeinerungsfähige Einsichten über eine Praxis zu formulieren, zu der diese Reflexion selbst gehört und auf die sie zielt; denn es ist ihre Aufgabe, den Handelnde...