Beschreibung
Welche aktiven Haltungen haben Menschen in den vergangenen Jahrhunderten gegenüber der Zukunft eingenommen? Die Beiträge dieses Bandes erschließen Zukunftserwartungen von Akteuren und daraus erwachsende Handlungsoptionen - von der Antike bis heute. Somit wird auf ganz unterschiedlichen Praxisfeldern der Vorsorge, der vorausschauenden Planung und der Erstellung von Vorhersagen eine grundsätzliche Pluralität gesellschaftlicher Möglichkeitshorizonte erkennbar.
Autorenportrait
Markus Bernhardt ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Wolfgang Blösel ist dort Professor für Alte Geschichte, Stefan Brakensiek Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit, Benjamin Scheller Professor für die Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.
Leseprobe
Vorwort Die Beiträge dieses Bandes erschließen Zukunftserwartungen von Akteuren und daraus erwachsende Handlungsoptionen in verschiedenen historischen Konstellationen von der Antike bis heute. Die Autorinnen und Autoren hinterfragen theoretische Überlegungen, die von einem prinzipiell neuen Verhältnis zur Kontingenz als einem Charakteristikum der Moderne ausgehen. Sie setzen sich mit einem Narrativ auseinander, das eine kategoriale Differenz zwischen der westlichen Moderne und allen anderen Gesellschaften postuliert. Diese in den Sozial- und Kulturwissenschaften geläufige Meistererzählung bezieht sich in simplifizierender Weise auf das Sattelzeitkonzept von Reinhart Koselleck. Sie unterstellt, dass die dynamischen Veränderungen in Politik, Ökonomie und Sozialordnung, die sich in den westlichen Gesellschaften seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert fraglos zugetragen haben, in der Vorstellungswelt der Zeitgenossen eine bis dahin nie gesehene Weitung des Möglichkeitshorizontes bewirkt habe. Im Gegensatz zur westlichen Moderne sagt das Narrativ sowohl den älteren Epochen, als auch den Gesellschaften außerhalb des Westens nach, dass Kontingenz lediglich erlitten werde. Zwar gab es zweifellos unterschiedliche Formen des menschlichen Umgangs mit Kontingenz und Zäsuren in dessen Geschichte. Doch erscheint es zweifelhaft, ob diese auf der Basis von Unterscheidungen wie vormodern/ modern, passiv/aktiv und außerweltlich/innerweltlich angemessen beschreibbar sind. Das monolithische Verständnis von Gesellschaft, das dem Narrativ inhärent ist, das mit den genannten Unterscheidungen operiert, unterstellt, dass jede Gesellschaft nur einen Möglichkeitshorizont aufweist. Wie immer man Gesellschaft jedoch auch fasst, sie ist stets als differenziert zu denken: in soziale Gruppen, Stände, Klassen, Funktionssysteme etc., die alle ihre eigenen Erfahrungen und Erfahrungsräume besaßen und besitzen. Entsprechend ist davon auszugehen, dass es in jeder historisch gegebenen Gesellschaft eine Pluralität von Möglichkeitshorizonten als Folge der gegebenen Pluralität von Erfahrungsräumen gibt. In solch einer Perspektive ist damit zu rechnen, dass sich historischer Wandel bevorzugt in der Weitung und Verengung von Möglichkeitshorizonten zeigt. Die Beiträge dieses Bandes knüpfen an diese Vorüberlegungen an und loten exemplarisch die Pluralität gesellschaftlicher Möglichkeitshorizonte in der Geschichte aus. Zugleich spüren sie Prozessen ihrer Weitung und Verengung nach. Mit einem monolithischen Verständnis von Gesellschaft, das dieser einen einzigen Möglichkeitshorizont unterstellt, geht vielfach ein homogenisierendes Verständnis von Kultur einher, das diese mit einem Kollektiv von Akteuren, einer Epoche oder einem Raum als Ganzem identifiziert und so von anderen Kollektiven, Epochen oder Räume mit anderen Kulturen abgrenzt. Dabei wird Kultur implizit oder explizit vor allem als ein ideelles Phänomen verstanden, das seinen Ort im menschlichen Bewusstsein hat. Eben hier verorten die meisten geschichtlichen Entwürfe die historisch fassbaren Möglichkeitshorizonte. Praktiken und Handlungsstrategien, mit denen Menschen versuchen, diese Möglichkeiten zu realisieren oder zu verhindern, erscheinen als Resultat neuer Ideen beziehungsweise einer neuen Mentalität. Die Pluralität von Möglichkeitshorizonten in der Geschichte lässt sich so jedoch nicht erschließen, sondern nur, wenn außerdem Praktiken und Handlungen in den Blick genommen und darauf befragt werden, vor welchem Möglichkeitshorizont Akteure sie vollziehen. Denn Möglichkeitshorizonte sind nicht nur ein explizites Wissen, dass etwas künftig möglich ist, sondern auch (oftmals implizites) Wissen, wie etwas möglich ist bzw. möglich aber auch unmöglich gemacht werden kann. Als Untersuchungsgegenstände dienen den Beiträgen daher weniger die Zukunftsvorstellungen intellektueller Eliten, sondern bevorzugt die aktiven Haltungen, die Akteure zur Zukunft einnehmen, und ihre Handlungsoptionen, die diese aktiven Haltungen ermöglichen. Der Band dokumentiert zugleich die Abschlusstagung für die erste Kohorte der Kollegiatinnen und Kollegiaten des Graduiertenkollegs 1919 "Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln", die im Oktober 2016 im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen stattgefunden hat. Er vereint Beiträge von Mitgliedern des Kollegs, die an dieser Stelle zentrale Ergebnisse ihrer Forschungsvorhaben vorstellen, mit Artikeln prominenter Gäste, die sich dankenswerterweise auf dessen Konzeption und Fragestellung eingelassen haben. So spricht Christian Meier in seinem Essay "Möglichkeitsweitung/ Möglichkeitsschließung. Zwei Fälle aus der antiken Geschichte Europas" der Geschichtswissenschaft die grundsätzliche Berechtigung und Befähigung zu, die Möglichkeitshorizonte historischer Akteure zu untersuchen. Um die Dimensionen dieser Möglichkeitshorizonte in der antiken Geschichte auszumessen, führt er zwei Extrembeispiele an: deren enorme Weitung im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. und deren Schließung im Untergang der römischen Republik. So ließen bei den Athenern die gewaltigen Erfolge bei der Perserabwehr und im Seebund das Selbstvertrauen und die Zuversicht in das unausweichliche Glücken all ihrer Unternehmungen wachsen. Das daraus erwachsende "Könnensbewusstsein" bildete laut Meier die Vorbedingung der griechischen Klassik und zudem ein Äquivalent zum modernen Fortschrittsbewusstsein. Für die Römer am Ende der Republik konstatiert Meier hingegen die Einsicht in die unüberbrückbare Kluft zwischen der Notwendigkeit struktureller Veränderungen der Verfassung und der Unmöglichkeit, diese zu verwirklichen. Denn dafür waren alle gesellschaftlich zentralen Gruppen viel zu eng in das überkommene System verwoben. Die Republik sei schließlich untergegangen, ohne zuvor wirklich in Frage gestellt worden zu sein. Andrew von Ross führt in seinem Aufsatz "Incertus et inaestimabilis. Kontingenz und Risikopraxis in der mittleren römischen Republik" als Beispiel für eine Gesellschaft, in der Elemente der kontingenzaffinen und kontingenzaversen Idealtypen gemischt waren, die römische Republik an. Darin hegten einerseits die normativ eng gerahmte Politik und die starke Kohärenz der Nobilität Kontingenz ein, andererseits wurden durch das Volkstribunat seit jeher Kontingenzen produziert und waren gerade die jungen nobiles auf dem Schlachtfeld, als Ankläger in Prozessen und bei Wahlen zu den niedrigen Ämtern verstärkt Kontingenzen ausgesetzt. Für hochrangige Imperiumsträger zeigt van Ross auf, wie sie durch ein mehrstufiges Kontingenzarrangement - sie lösten ihre Entscheidung in eine Vielzahl von Entscheidungen auf und sequenzierten diese zeitlich - die Risiken ihres ungewöhnlich aggressiven Vorgehens in ihren Provinzen, das sie absehbar mit dem Senat in Konflikt bringen musste, minimierten. Dass einzelne dies vermochten, ist umso bemerkenswerter, als nobiles normalerweise in der Sequenzierung risikoträchtiger Entscheidungen keineswegs geübt waren, sondern durch die Annuität ihrer Ämter und Imperien in den Provinzen unter großem Zeitdruck standen. Jan Timmer skizziert in seinem Aufsatz "Planen - Vertrauen - Ignorieren. Die Unsicherheit der Zukunft und das Handeln des Aristokraten" verschiedene Strategien der römisch-republikanischen nobiles zur Bewältigung derjenigen Kontingenzen, die gerade ihnen in der zumeist auf den Augenblick fixierten Politik Roms drohten. Bei Niederlagen entkoppelten römische Feldherren wie auch Ämterkandidaten die eigene Entscheidung vom eingetretenen Schaden, indem sie den Zorn der Götter bzw. den Wankelmut des als Pöbel verstandenen Wahlvolkes dafür verantwortlich machten. Als zentrale Strategie für den alltäglichen Umgang der nobiles miteinander hebt Timmer jedoch das gegenseitige Vertrauen hervor. Denn dieses war unerlässlich für Verhandlungen, die in der Republik zumeist zum Konsens aller Beteiligten führen sollten. Dieses Vertrauen aufzubringen wurde durch die soziale Abgeschlo...