Beschreibung
Die historische Forschung, die sich mit arbeitenden Menschen beschäftigt, nahm zuletzt eine völlig neue Wendung: Die Geschichte der Arbeit verließ die ausgetretenen eurozentristischen Pfade und wurde "globalisiert". Historiker befassen sich seither, umfassend und systematisch, auch mit den Arbeitsverhältnissen in Asien, Afrika und Lateinamerika und gewinnen dadurch einen neuen Blick auf die europäische Sozialgeschichte. "Workers of the World", Marcel van der Lindens bahnbrechendes Standardwerk zur neuen "Global Labor History", liegt mit diesem Band erstmals vollständig in deutscher Sprache vor.
Autorenportrait
Marcel van der Linden forscht am Internationalen Institut für Sozialgeschichte und ist Professor für die Geschichte der sozialen Bewegungen an der Universität Amsterdam. Von 2005 bis 2010 war er Präsident der International Social History Association.
Leseprobe
Vorwort Was ist Global Labour History? Die globale Geschichte der Arbeit, Thema des vorliegenden Buches von Marcel van der Linden, ist ein vergleichsweise neues Feld, das viele unterschiedliche Aspekte umfasst. Zu ihren wichtigsten Anliegen gehört die stärkere intellektuelle und institutionelle Einbeziehung der Geschichtsschreibung über und im "globalen Süden". Dies sollte freilich nicht die Tatsache verdecken, dass etwa HistorikerInnen aus Lateinamerika, wie ihre nordamerikanischen und europäischen KollegInnen, seit Dekaden spezifische Aspekte der Geschichte der Arbeit erforschen. Afrikanische und südasiatische HistorikerInnen haben etwas später damit begonnen, oft mit einem Fokus entweder auf eine bestimmte Region oder einen spezifischen Typus von Arbeit, etwa Plantagenarbeit. Anregungen aus den Diskussionen über Kolonialismus und Postkolonialismus waren in zahlreichen Anläufen zu globalen Perspektiven in der Geschichtsforschung von wesentlicher Bedeutung. Dies gilt auch für die Geschichte der Arbeit. In diesem Bereich ist das wechselseitige Verhältnis von sozialem Wandel innerhalb der Kolonialstaaten bzw. den kolonialisierten Gebieten weiterhin von Interesse. Eine weiterhin zentrale Frage lautet, wie Kolonialismus die Geschichte der Arbeit geprägt hat. Eine wichtige Institution in diesem Zusammenhang ist die Sklavenplantage als formative Erfahrung in der Entwicklung großer, strikt organisierter und eng überwachter Unternehmen. Wie hat diese Erfahrung Vorstellungen, Organisation und Praktiken von Arbeit in der Welt geformt? Schließlich bietet auch ein Argument von Karl Marx wichtige Anregungen: Folgen wir ihm, sind der Zugang zu Land und die Möglichkeit der Migration Hindernisse für die ursprüngliche Akkumulation. Warum bleibt diese Problematik auch nach langen und intensiven Kolonisierungsanstrengungen noch aktuell? In diesem Rahmen kann die Übertragung von Arbeitsmustern (einschließlich Rechtsformen von Arbeit, Arbeitsethik, Ausbildung und Disziplin) vom Westen in die Kolonien untersucht werden, wobei sich die realen Auswirkungen solcher Übertragungen oftmals von den mit ihnen verbundenen Absichten unterschieden - zentrale Konzepte sind Transfer, Anverwandlung, Abstoßung und Wandel. Gleichzeitig ist es von großer Bedeutung, die Einflüsse in entgegengesetzter Richtung - von der Kolonie in die Metropole - festzuhalten und zu erforschen. Migrationen sind in diesem Zusammenhang ein wichtiges Forschungsfeld. Europäische und westliche HistorikerInnen, die sich mit dem Phänomen "Arbeit" beschäftigen, neigten dazu, ihre Perspektiven auf der Grundlage oft sehr spezifischer Beispiele zu "universalisieren". Sie pflegten etwa die Forschungen von Karibik-SpezialistInnen zu ignorieren, für die seit den Arbeiten von Eric Williams und C. L. R. James aus den 1930er und 1940er Jahren das Verhältnis von Plantagenarbeit und globalem Kapitalismus zentral war. Die lange Tradition indischer Forschung zu Arbeit und Kapitalismus verdient ebenso Beachtung wie die etwas rezenteren afrikanischen Anstrengungen in diesem Bereich. Globale Geschichtsforschung, die oft auf regionalwissenschaftlicher Forschung basiert, hat zur Hervorhebung hybrider Konstellationen geführt, z. B. wenn rekonstruiert wurde, wie SklavInnen von ihren BesitzerInnen aufgefordert wurden, das Haus oder die Plantage zu verlassen und außerhalb dieser Sphären Lohnarbeit anzunehmen, einen Teil ihres damit erzielten Einkommens aber an ihre Herren abzugeben. Die Kombination von Sklavenarbeit und Lohnarbeit ebenso wie die von Leibeigenschaft und Kapitalismus (z. B. in Russland um 1900) scheinen die These von der außerordentlichen Bedeutung der vertraglich vereinbarten freien Lohnarbeit, wie sie gemäß klassischer Sicht im Kapitalismus vorherrschte, zu relativieren. Neudefinitionen von Klasse könnten hier die Folge sein. Die Beziehung zwischen freier und unfreier Arbeit ist ein zentrales Thema der Global Labour History. Während im Westen die Geschichte der Arbeiterbewegungen viel an Attraktivität für WissenschaftlerInnen verloren hat, bietet die globale Geschichte der Arbeiterbewegungen weiterhin viele spannende Forschungsoptionen. Werden internationale Vergleiche zeigen, dass die spezifische Verbindung von Protest, Emanzipation und Reform oder Revolution, die die klassischen Arbeiterbewegungen im Westen charakterisierte, nur für Europa (und/oder den Westen) galt? Dies könnte interessante Folgen für die Diskussionen über europäische Erinnerungskultur haben, in denen die Erinnerung an Arbeit und Arbeiterbewegungen vielleicht eine prominentere Stellung verdiente, als dies heute der Fall ist. Nicht nur in diesem Zusammenhang sollte man jedoch die Vorstellung vermeiden, dass der Westen das Modell bleibt und man lediglich nach Varianten von und Abweichungen zu diesem Modell suchen sollte. Denn es gibt andere Möglichkeiten, über verschiedene Teile der Welt nachzudenken. Was den Stand der Methoden betrifft, ist die globale Geschichte der Arbeit eher ein "Problemfeld" als eine Theorie, an die sich jeder zu halten hätte. Die Globalgeschichte der Arbeit sieht sich gleichwohl, darauf hat nicht zuletzt Marcel van der Linden nachdrücklich verwiesen, mit verschiedenen Problemen konfrontiert, die zugleich eine Chance darstellen, zentrale Themen der Arbeitsgeschichte noch einmal kritisch aufzugreifen. Er verweist etwa auf die Schlüsselkonzepte der Geschichte der Arbeit, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung. Sie beruhen auf Erfahrungen innerhalb der Nordatlantikregion. Ist es daher sinnvoll, sie auch im globalen Maßstab zu nutzen? Diese Frage stellt sich bereits, so van der Linden, mit aller Deutlichkeit für das Konzept von Arbeit an sich. Im Englischen etwa existiert die Unterscheidung zwischen "work" und "labour". Folgen wir Hannah Arendts nicht unumstrittener Deutung, bezieht sich "labour" mehr auf Mühe und Anstrengung, während "work" eher für den Prozess des Schaffens steht. Diese binäre Bedeutung kennen viele andere Sprachen jedoch nicht. Manchmal gibt es nicht einmal einen einzelnen Begriff für "Arbeit", weil dieses Konzept von den spezifischen Eigenschaften konkreter Arbeitsprozesse abstrahiert. Eine einfache Lösung für dieses Problem ist nicht in Sicht, aber globalhistorische Perspektiven haben zu einer neuen Sensibilität für die zentralen Begrifflichkeiten in der Geschichte der Arbeit geführt. Wir sollten also nicht stillschweigend voraussetzen, was unter Arbeit zu verstehen ist, sondern ihre Bedeutungsinhalte deutlich präziser definieren als dies üblicherweise geschieht. Wo genau ziehen wir die Grenze zwischen "labour" und "work" oder ist diese Grenze gar nicht so offensichtlich, wie häufig angenommen wird? Und wo verlaufen die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit? Auch das Konzept der "Arbeiterklasse" muss, argumentiert Marcel van der Linden, vor diesem Hintergrund neu beleuchtet werden. Der Begriff entwickelte sich im 19. Jahrhundert im nordatlantischen Raum zur Benennung der sogenannten "respektablen" ArbeiterInnen - um sie von SklavInnen und anderen unfreien ArbeiterInnen wie zum selbstständigen Kleinbürgertum (petite bourgeoisie) und den armen Ausgestoßenen, dem "Lumpenproletariat" abgrenzen zu können. Für viele Regionen der Welt macht eine solche Kategorisierung jedoch wenig Sinn. Denn unfreie Arbeiter der unterschiedlichsten Art sind in weiten Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die Regel, und nicht, wie die klassische - eurozentrische - Definition von Arbeiterklasse suggeriert, die Ausnahme. Zu den Anliegen der Global Labour History gehört es, eine neue Begrifflichkeit von "Arbeiterklasse" zu entwickeln, die sich stärker an der Inklusion verschiedener abhängiger oder marginalisierter Arbeitergruppen orientiert. Dazu zählen nicht allein verschiedene Formen der Sklaverei, sondern auch andere Spielarten der unfreien Arbeit wie Vertragsknechtschaft (indentured labour) und die Naturalpacht (sharecropping). Sie sind in den vergangenen Jahren verstärkt in das Blickfeld der Geschic...