Beschreibung
Der Plot erinnert an einen Spionageroman aus der Zeit des Kalten Krieges: Zwischen 1968 und 1989 befragte das Meinungsforschungsinstitut Infratest im Auftrag des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen westdeutsche Besucher der DDR jährlich über die Stimmungen und Einstellungen der Bevölkerung im 'sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern'. Die seinerzeit vertraulich behandelten Erhebungen enthalten Aussagen darüber, wie die Bürgerinnen und Bürger der DDR ihre Lebensbedingungen, den ökonomischen Zustand ihres Staatswesens und ihre Freiheitsspielräume einschätzten. Die Umfragen bilden die damaligen Urteile Ostdeutscher zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bemerkenswert realitätsnah ab. Daher sind die unter einer 'demoskopischen Tarnkappe' gemachten Beobachtungen eine einzigartige zeitgeschichtliche Quelle. Entstanden in Zeiten der Existenz zweier deutscher Staaten, stellen die Berichte zugleich ein Stück Vorgeschichte der deutschen Einheit dar.
Autorenportrait
Prof. Dr. Everhard Holtmann ist Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. an der Universität Halle-Wittenberg. Dr. Anne Köhler war geschäftsführende Gesellschafterin der Infratest Kommunikationsforschung.
Leseprobe
I. Einleitung 1. Die vertrauliche Vermessung der Wirklichkeit der DDR vor 1990 Wer sich über den Stand des politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins im Osten Deutschlands während der Zeit vor 1990 genauer informieren will, sah sich lange durch das Hindernis einer Wissenskluft blockiert, die unüberwindbar schien: Exakte Daten, wie sie für die Bundesrepublik mit repräsentativen Bevölkerungsumfragen seit Jahrzehnten in reicher Fülle ermittelt werden, liegen für die Zeit, in der die DDR existierte, in einer nach einbezogenen Themen und gesellschaftlichen Teilgruppen vergleichbaren Vielfalt sowie in einer nach dem Grad ihrer allgemeinen Zugänglichkeit vergleichbaren Transparenz nicht vor. Solche Daten sind nicht etwa, wie zahlreiche Aktenbestände der Staatssicherheit, in der Endzeit der DDR gezielt vernichtet worden. Sie wurden vielmehr im Land selbst zu keiner Zeit erhoben. Eine rare Ausnahme stellt jener Sonderbestand an Studien dar, welche die SED-Führung zu einzelnen Sozialgruppen wie jungen Werktätigen und Studierenden am Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung in Auftrag gegeben und unter Verschluss gehalten hatte. Dass die inzwischen erfolgte Sicherung und Aufbereitung dieser Datensätze Möglichkeiten eröffnet, zumindest in einem schmalen Segment ostdeutscher Einstellungsforschung beispielsweise Kohortenvergleiche vorzunehmen, die bis in die Gegenwart reichen, macht das Fehlen von Zeitreihen repräsentativer Bevölkerungsumfragen für die Zeit der DDR nur umso deutlicher bewusst. Dass dieser weiße Fleck auf der Landkarte der politischen Psychologie Ostdeutschlands für die Zeit der DDR existiert, ist kein historischer Zufall. Denn Bevölkerungsumfragen, in denen Meinungsbilder, Stimmungslagen und der Stand der Einstellungen von unabhängigen Forschern erhoben, auf repräsentativer Basis abgebildet und öffentlich gemacht werden, sind für Diktaturen generell eine Herausforderung, weil sie für diese ein Sicherheitsrisiko darstellen. Auch die DDR-Oberen wussten sehr wohl: Der Absicherung ihrer Macht konnten veröffentlichte Befragungen der eigenen Bevölkerung so gefährlich werden wie politische Brandbeschleuniger. Dass die Partei- und Staatsführung der DDR, so wie die Machthaber in jeder anderen Diktatur, einer Demoskopie, deren Anwendung sie nicht kontrollieren und deren Befunde sie nicht nach Gutdünken manipulieren können, tief misstraute und deren Messinstrumente aus ihrem Herr-schaftsbereich weitestgehend verbannte, hatte, genau besehen, zwei Gründe. Ein Motiv war Furcht: Wäre das in der ostdeutschen Bevölkerung tatsächlich vorhandene Ausmaß an rein äußerlicher Anpassung, an Unzufriedenheit und Entfremdung, an Verweigerung und Resistenz, also jener Verhaltensmuster, die für den Alltag in Diktaturen, auch solcher, die relativ fest im Sattel sitzen, kennzeichnend sind, exakt gemessen worden, dann hätte sich die herrschaftssichernde Propagandaphrase der "unverbrüchlichen Einheit" von Volk und Führung, von Partei und Staat als Trugbild enthüllt. Umfragedaten, die diese Botschaft transportieren, hätten dann als ein hartes Indiz für dürftige Legitimation und systemisches Politikversagen im Raum gestan-den. Ein anderes Motiv war Verdrängung: Es lebte sich für die diktatorisch waltende politische Führungskaste der DDR in dem schönen Schein ge-schönter Wirklichkeiten schlicht leichter als mit dem unbequemen empiri-schen Nachweis, dass große Teile der Gesellschaft zur herrschenden Ideologie und zu deren Verkündern längst innerlich auf Abstand gegangen waren. Für diese wirklichkeitsblinde Verdrängung steht "Wandlitz", die zur Metapher der Selbstisolation des inneren Führungszirkels der DDR gewordene damalige Waldkolonie der Staats- und Parteispitze nahe Berlin. Die hartnäckige Abneigung der DDR-Führung gegenüber Bevölke-rungsumfragen wurzelte folglich in der verallgemeinerbaren Machtbehauptungslogik von Diktaturen: Information, die Überraschungen bergen, die unbequeme Wahrheiten zutage fördern und sich obendrein verselbständigen kann, stellt ein hohes politisches Risiko dar. Am besten also, solches schwer kontrollierbares Wissen entsteht erst gar nicht und kommt folglich auch nicht in Umlauf. Wie bei vielen anderen gegenläufigen Strukturentscheidungen im alsbald geteilten Nachkriegsdeutschland, wurden die Weichen für die Ein-führung moderner Umfragemethoden in Westdeutschland und ebenso für deren Verbannung in Ostdeutschland bereits unmittelbar nach Kriegsende gestellt. Dass beide Teile Deutschlands schon in der Übergangsphase, als eine eigene nationale Staatlichkeit hier wie dort noch nicht existierte, hinsichtlich des Einsatzes des Instruments der Demoskopie nach 1945 getrennte Wege eingeschlagen haben, verdeutlicht rückblickend den Unterschied zwischen den Alternativen einer liberaldemokratischen und einer realsozialistischen Systemidee und Gesellschaftsvorstellung auf besondere Weise. Dabei waren das Bedürfnis und das Suchen nach Selbstvergewisserung zunächst allgegenwärtig. Nachdem der NS-Staat im Mai 1945 zusammengebrochen war, herrschte im damaligen geistigen "Niemandsland" zwischen Diktatur und demokratischem Aufbruch allgemein Ungewissheit darüber, wie die Deutschen, ob in Ost oder West, politisch dachten. In der Emigration weilend, hatte Heinrich Mann zwei Jahre zuvor, im Mai 1943, diese Unklarheit in die bange Frage gekleidet: "Wenn die Nazi-Häuptlinge in ihren U-Booten nach Japan abgereist sind, was lassen sie zurück? In welchem Zustand sind die Menschen, die sie zum Schluss nicht umgebracht haben?" Zwar sezierten literarische Reportagen, die als ein Teil der ungemein vielfältigen Nachkriegsliteratur seinerzeit rasche Verbreitung fanden, die Grundzüge im öffentlichen und privaten Denken der Zeitgenossen mit scharfer Beobachtungsgabe heraus, so beispielsweise "die deutsche Nachkriegsmentalität der Selbstbezogenheit und des Selbstmitleids, auch der latenten Aggression gegen die Siegermächte, die an die Stelle der Einsicht in die eigene Schuld tritt". Solche literarischen Streifzüge durch die Schluchten der Befindlichkeiten im verstörten Nachkriegsdeutschland bezogen ostdeutsche Lebenswelten noch wie selbstverständlich mit ein. Aus Sicht der Autoren dieser damaligen Zeitbilder war die spätere innerdeutsche Grenze noch nicht als eine ost-westliche Trennlinie der Einstellungen scharf markiert. Doch fiel im Schatten des heraufziehenden Ost-West-Konflikts sehr bald die Grundentscheidung im Westen für und im Osten wider die Umfrageforschung, mit der Folge, dass der Wissensstand über das Denken und Fühlen der Menschen im östlichen Teil des geteilten Deutschlands für die Zeit der rund 40 Jahre währenden Existenz der DDR einer empirisch-statistischen Basis weithin entbehrt. Während in Westdeutschland die Meinungsforschung schon wenige Monate nach dem Ende des Krieges Einzug hielt, weil sie von der Besatzungsmacht als ein flankierendes Element der demokratischen Erneuerung betrachtet und - unter Beachtung handwerklich sauberer Standards - dafür eingesetzt wurde, machten, soweit wir wissen, die sowjetische Militärregierung von diesem Instrument gar nicht und die Machthaber des SED-Regimes erst spät und nur sehr dosiert und intern Gebrauch. Erst nachdem im Spätherbst 1989, als die DDR bereits in die Phase der Agonie eingetreten war, die westdeutsche Einstellungsforschung ihren Radius nach Ostdeutschland hinein erweiterte, konnte diese spezielle deutsch-deutsche Informationslücke - allerdings nicht rückwirkend - wieder geschlossen werden. Die Voraussetzungen dafür, langfristige datengestützte Trendverläufe im politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein nachzuverfolgen, sodann diese Trends in historische Traditionslinien einzuordnen und so die vielbeschriebenen "Pfadabhängigkeiten" auch für eine gesamtdeutsche politische Kultur zu markieren, stellen sich mithin für beide Teile Deutschlands sehr unterschiedlich dar. Dass die US-amerikanische Militärregierung sich zu Zwecken der Besatzungspolitik moderner sozial-wisse...