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Armut im geteilten Deutschland

Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR

Erschienen am 09.02.2015, 1. Auflage 2015
46,00 €
(inkl. MwSt.)

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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593502687
Sprache: Deutsch
Umfang: 469 S.
Format (T/L/B): 2.9 x 21.3 x 14.1 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Heutige Diskussionen um soziale Ungleichheit sind häufig ideologisch und emotional aufgeladen. Oft bilden dabei altbewährte Sozialklischees den Deutungsrahmen für die Bewertung von 'Armut', in dem sich moralisierende, dramatisierende und solidarisierende Narrative entfalten. Die Wahrnehmung der 'Unterschicht' hat aber auch eine Geschichte - dieses Buch untersucht erstmals, zudem auf breiter empirischer Basis, die sozialen Images von Armut in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zwischen den beiden Staatsgründungen (1949) und der 'Wiedervereinigung' (1989). Wo lassen sich Gemeinsamkeiten und Abweichungen in der Bewertung sozialer Schieflagen 'hüben' wie 'drüben' erkennen? Ausgewählt für die Shortlist des Opus Primum - Förderpreis der VolkswagenStiftung für die beste Nachwuchspublikation des Jahres 2015

Autorenportrait

Christoph Lorke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Leseprobe

Einleitung Armut gehört untrennbar zur Menschheitsgeschichte. Trotz (oder gerade wegen) ihrer Omnipräsenz repräsentiert sie aber auch immer ein "Tabu, über das viel geredet wird". Dieser Umstand gilt offenbar bis heute. Unlängst sorgte der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge weit über den akademischen Raum hinaus für Aufsehen, als er im Anschluss an seine tour d'horizon durch aktuelle wie vergangene Armutsdebatten postulierte, Armut werde "eskamotiert, kaschiert oder ideologisch verbrämt", um "die sich tendenziell immer stärker ausprägende soziale Ungleichheit zu legitimieren". Zu keiner Zeit habe sich die bundesdeutsche Gesellschaft ernsthaft mit Armut auseinandergesetzt, im Gegenteil, sie habe diese vielmehr "bewusst ignoriert, negiert oder relativiert". Auch die Reaktionen auf den Vierten Armutsbericht der Bundesregierung im Frühjahr 2013 - damals warf die Oppositionsseite der Regierung eine Beschönigung der tatsächlichen sozialen Lage vor - fügten sich in das so entworfene Bild: Das öffentliche Sprechen über Armut provoziert und muss zumindest aus Sicht der politisch Verantwortlichen aufgrund der Inkompatibilität mit sozialstaatlichen Versprechungen möglichst klein gehalten werden. Die Diskussionen der letzten Jahre um soziale Ungleichheit nicht nur in bundesdeutschen, sondern verstärkt auch in europäischen Kontexten zeigen, dass vor allem die zunehmende Öffnung der "Schere" zwischen Arm und Reich in den Fokus gerückt ist. Ein konstantes diskursives Nebenprodukt dieser sozialen Debatten war hierzulande die angeblich unaufhaltsam fortschreitende Ausbreitung sozialer Lebenswelten der "Armut", innerhalb derer bürgerlich-mittelständische Vorstellungen zu Arbeit oder Leistung scheinbar keinerlei Gültigkeit besäßen: Weniger das Fehlen pekuniärer Ressourcen sei das Hauptproblem eines Großteils der Betroffenen, sondern vielmehr spezifische Lebensformen einer "Unterschichtenkultur" mit "eigenen Verhaltensweisen, eigenen Werten und eigenen Vorbildern". So zumindest konstatierte ein Stern-Artikel im Jahr 2004, der ein Jahr darauf immerhin mit dem Deutschen Sozialpreis Print prämiert wurde. Die Eltern aus dieser "Unterschicht", fuhr der Text fort, "parkten" ihre Kinder vor dem Fernseher mit "verdummenden Programmen der Privaten", "stopften" sie mit Süßigkeiten voll, seien disziplinlos, verlören die Kontrolle in allen Lebensbereichen, ja versperrten sich durch diese Lebensweise und "eigene" Kultur den Weg (zurück) in die Gesellschaft. Ähnlich argumentierte im selben Jahr der Historiker Paul Nolte mit seinen auch außerhalb der Fachwelt bekannt gewordenen Thesen vom "Unterschichtenfernsehen" und dem "Übergewicht" als "Unterschichtenproblem". Seine Ansichten provozierten eine Reihe zuweilen stürmischer Entgegnungen, wie sie auch in jüngerer Vergangenheit die Aussagen des damaligen Außenministers Guido Westerwelle hervorriefen, der 2009 mit Blick auf "Hartz-IV-Emp-fänger" und den ihnen zuteilwerdenden sozialstaatlichen Leistungen pro-vokant von "spätrömischer Dekadenz" und "anstrengungslose[m] Wohl-stand" sprach. Der SPD-Politiker Thilo Sarrazin sorgte in seinem 2010 erschienenen Buch Deutschland schafft sich ab vor allem dadurch für Furore, weil er die aus seiner Sicht herrschende sozialstaatliche Misere unter anderem auf das Problem geistig-moralischer Armut zurückzuführen versuchte. Diese Exempel verweisen auf die symbolische Nutzung sozialer Images, die leicht erweitert werden könnten. Insbesondere die aus den Beispielen resultierenden mannigfachen emotionalen Reaktionen belegen eindrücklich, wie umkämpft und normativ aufgeladen das Sprechen über "Armut" ist. Armutsgeschichte als Kulturgeschichte In dieser Arbeit werden Analogien, Wurzeln, Traditionen, deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten und Abweichungen solcher Argumentationsstrukturen, symbolischen Kategorisierungen, diskursiven und symbolischen Artikulationen, Klassifizierungs- und Zuschreibungsmodi aufgezeigt. Das leitende Ziel ist dabei jedoch weniger, der Kluft zwischen "Arm" und "Reich" historisch nachzuspüren, als vielmehr eine integriert deutsch-deutsche Wahrnehmungs- und Deutungsgeschichte der "Armut" zwischen Teilung und deutscher Einheit zu konzipieren. Ohne die sozialhistorische Dimension des Themas außer Acht zu lassen, werden die Grundprinzipien und Leitlinien der Genese, Funktion und Produktion sozialer Images von "Armut" herausgearbeitet, um die inhärenten Brüche und Kontinuitäten bei Diskussionen über dieses gesellschaftliche Phänomen im deutsch-deutschen Vergleich zu konturieren. Die Rekonstruktion der tragenden Sprachformen und Kategoriensysteme erfolgt auf den Ebenen Wahrnehmung, Repräsentation und gesellschaftliche Debatten - und dies anhand der folgenden Leitfragen: Welche sozialen Images dominierten warum und zu welchem Zeitpunkt in öffentlichen Auseinandersetzungen um Fragen sozialer Ungleichheit? Wie ähnlich bzw. wie verschieden gestaltete sich das Erkennen und Aufgreifen sozialer Unterschiede in den beiden deutschen Staaten? Wo sind Verbindungslinien, wo Brüche zu heutigen Beschreibungsmodi auszumachen? Welche Rolle erfüllten bestimmte soziale Images über "Armut" bzw. über "Arme" im Kontext des vorherrschenden gesellschaftlichen Selbstverständnisses? Die engen Beziehungen des Gegenstandes zu gegenwärtigen Diskussionen über soziale Ungleichheit sind evident. Nicht zuletzt wegen der Aktualität des Themas bietet es sich nachgerade an, dem eingeforderten Gegenwartsbezug (zeit)historischer (Armuts-)Forschung Rechnung zu tragen, um sodann die Sensibilität für derzeitige Wahrnehmungsmuster und Beschreibungsmodi zu schärfen. Aufgegriffen wird die von Hans Günter Hockerts erhobene Forderung, Zeitgeschichte auch als "Vorgeschichte heutiger Problemkonstellationen" zu begreifen. Dadurch werde es möglich, die Hintergründe, Folgen und Kontexte der modernen Gesell-schaft zu untersuchen. Gleichzeitig ist die Thematik sowohl theoretisch-konzeptionell als auch empirisch nicht ohne Schwierigkeiten zu umgrenzen: Kinderarmut, Altersarmut, Armutsmigration - Schlagworte wie diese vermögen zwar (zumal in Zeiten des Wahlkampfes), das immense poli-tisch-öffentliche Interesse am Gegenstand zu versinnbildlichen. Gleich-wohl ist bis heute nicht unumstritten, was unter "Armut" zu verstehen ist und wie (bzw. ob) sie sich empirisch messen lässt. "Armut" erscheint beinahe zwangsläufig als ein "hochemotional besetzter, schillernder Begriff", der auf das untere, gesellschaftlich wenig akzeptierte Segment des materiellen Ungleichheitsspektrums deutet. Konsens besteht in der Forschung zumindest weitgehend darüber, dass es wie für alle sozialen Probleme keine "richtige" und allgemeingültige Definition von "Armut" geben kann. Wie bedeutsam der politisch-normative Relationsbegriff "Armut" in einer bestimmten Gesellschaftsform ist, hängt wesentlich davon ab, wer "Armut" wie, wo und wozu definiert. Georg Simmel, der jenes soziologisch-konstruktivistische Armutsverständnis begründete, sah den Faktor "Hilfsbedürftigkeit" als Kern von Armut, die als soziale Kategorie maßgebend auf gesellschaftlichen Reaktionen beruhe: Die zu einem gewissen Zeitpunkt in einer gegebenen Gesellschaft herrschende Definition prägt demnach letztlich die Politik gegenüber den als "arm" klassifizierten Individuen und Gruppen und entscheidet nicht zuletzt darüber, ob bestimmte Personengruppen das Etikett "arm" erhalten, das zu einer (wie auch immer gearteten) Unterstützung berechtigt, oder ob sie vermittels anderer Zuschreibungen mit je abweichenden Konnotationen signiert werden. Abhängig von der politisch-kulturellen Perspektive und dem historischen Zeitpunkt werden demzufolge durchaus unterschiedliche Vorstellungen mit dem Begriff Armut verbunden. Diese Vorstellungen sind einem beständigen Wandel unterworfen. Im Fall des bundesdeutschen Beispiels liegt es auf der Hand, dass etwa im Jahr 1949 unter "Armut" etwas völlig anderes verstanden wurde, als damit vor allem Flüchtlinge, Vertriebene, Kriegsheimkehrer gemeint ware...

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