Was und wie wir fühlen, ist auf biologischer Basis zu einem großen Teil durch kulturelle Codes reguliert. Ihre Entstehung, ihre Wirkung auf die Emotionen und die Wirkung der Emotionen auf die Sprache werden in diesem Buch untersucht und mit dem kooperativen Verhalten nichtmenschlicher Primaten verglichen. Im Zentrum steht dabei die enge Verbindung von Emotionen und Sprache. Neben der Sprache werden auch die Musik, der Film, die Gestik, religiöse Praktiken und Rituale sowie der Ausdruck von sozialen Gefühlen in die Betrachtung einbezogen.
Gunter Gebauer ist emeritierter Professor für Philosophie an der FU Berlin. Markus Edler, Dr. phil., Literaturwissenschaftler und Philosoph, ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter. Der Band entstand im Rahmen des Exzellenzclusters "Languages of Emotion" an der FU Berlin.
Vorwort
Mit dem vorliegenden Band werden ausgewählte Forschungsarbeiten des Exzellenzclusters "Languages of Emotion" der Freien Universität Berlin einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Angeregt wurde die Publikation von dem Erfolg der Universitätsvorlesung, die von den Herausgebern im Rahmen des Programms "Offener Hörsaal" an der FU veranstaltet wurde (im Wintersemester 2011/12). Aus den Perspektiven der beteiligten Fächer wurden Problemstellungen, Methoden und Ergebnisse der Arbeiten des Clusters über den Zusammenhang zwischen Emotionen und sprachlichen Praktiken dargestellt.
Eine Besonderheit des Clusters, die Kooperation von Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaftlern, wird in diesem Band an gemeinsam entwickelten Fragen und Forschungsinteressen sichtbar. Bei dieser Arbeit kam es zu einer gegenseitigen Verständigung der beteiligten Wissenschaftler über die Perspektiven der jeweils anderen Disziplinen, die ihnen vorher fernstanden. Die Kooperation hat sie in die Lage versetzt, deren Sichtweisen zu erfassen und für die eigenen Forschungen fruchtbar zu machen. Bei der Konzeption des Bandes sind die Herausgeber von dem Wunsch geleitet, eine solche Einsicht auch den Lesern und Leserinnen zu vermitteln. Die Vielfalt der Ansätze in diesem Buch wird durch die Absicht zusammengeführt, eine komplexere Konzeption der Beziehung von Emotionen und Sprache zu entwerfen, als dies innerhalb einer einzigen Wissenschaft, und sei sie noch so scharfsinnig, geschehen kann.
Zur Fertigstellung des Bandes haben unsere Kolleginnen und Kollegen mit wertvollen Anregungen beigetragen. Der Vorstand des Clusters und der Kanzler der Freien Universität Berlin haben zu den Druckkosten beigetragen. Eckhard Hammel hat das Manuskript für den Druck vorbereitet. Ihnen allen danken wir herzlich für ihre Unterstützung.
Berlin, im Winter 2013/14Gunter Gebauer und Markus Edler
Einleitung
Gunter Gebauer/Markus Edler
In den letzten Jahrzehnten haben neuartige Forschungen über Emotionen einen bedeutenden Erkenntnisfortschritt bewirkt. Ausgelöst wurde dieser von Wissenschaften, die im Exzellenzcluster "Languages of Emotion" an der Freien Universität Berlin kooperiert haben. In diesem Band stellen Mitglieder des Clusters den Stand ihrer Wissenschaft und Ergebnisse ihrer laufenden Arbeiten einem interessierten Publikum vor. Aus der Fülle der im Cluster bearbeiteten Probleme wurden Forschungen zu Aspekten von Kunst, Kultur und Gesellschaft ausgewählt.
Im Zentrum des Buchs steht die enge Verbindung von emotionalem Geschehen und Sprache im weitesten Sinn; zu dieser gehören neben der verbalen Sprache auch sprachliche Weisen der Erzeugung von Emotion, die man in der Musik, im Film, in religiösen Ritualen und im kommunikativen Sozialverhalten vorfindet. Alle diese Sprachformen werden unter dem Gesichtspunkt betrachtet, dass sie emotionale Reaktionen hervorrufen, steuern (oder dies, wie im Fall von "Coolness", gerade vermeiden) und ihre Grundlage in der biologischen Anlage des Menschen haben. In diesem Kontext ist die Frage danach unvermeidlich, wie dessen natürliche und sozial erworbene Eigenschaften miteinander interagieren. Wertvolle Hinweise auf das spezifisch Menschliche, das von Sozialität, Kooperation und Empathie geprägt ist, erhalten wir von Forschungen zur Entstehung humaner Eigenschaften und zum emotionalen Verhalten menschenähnlicher Lebewesen - von der Entwicklungspsychologie und der Primatenforschung.
In der engen Verbindung von emotionalem Geschehen und sprachlich geprägten Praktiken entstehen Erkenntnis und Gemeinsamkeit zwischen Menschen (zum Beispiel Empathie); sie werden in gesellschaftlichen Prozessen weitergebildet. Was wir fühlen und wie wir fühlen, wird zu einem großen Teil durch kulturelle Codes reguliert. Wandlungen der Sprachen der Emotion tragen auch zur Veränderung der Emotion selbst bei. Die Wirkungen verschiedenartiger Sprachformen auf die Emotion sind experimentell und konzeptionell untersucht worden, wie bei der Rezeption von Musik, beim Lesen oder unter dem Eindruck von Kriegsfilmen. Bei ihrer Rezeption werden emotionale Potenziale aktiviert und intensiviert, die wiederum auf die sprachlichen und kulturellen Formen zurückwirken. Mit der Entstehung neuer, verfeinerter emotionaler Ausdrucksweisen werden nicht nur das Verhalten und die Wahrnehmung, es wird auch das psychische Geschehen selbst verändert. Mit diesen Beobachtungen gerät die umgekehrte Wirkungsrichtung in den Blick: die Wirkungen von Emotionen auf Ausdrucksweisen von Sprachen und deren Veränderungen unter dem Druck emotionaler Reaktionen, wie in ästhetischen Erfahrungen des Ekelhaften oder bei religiösen Ritualen, bei der Bewältigung von Gewalt und sozialer Ungleichheit oder in kollektiven Emotionen des Sports.
Mit der Emotionsforschung der letzten Jahrzehnte ist in die Wissenschaften, die von ihr beeinflusst wurden, etwas wesentlich Neues eingebracht worden. In allgemeinster Form können wir sagen, dass sich ihre Vorstellung vom Menschen, die vorher als mehr oder weniger ausgesprochene Voraussetzung in der Philosophie und in den wissenschaftlichen Forschungen über den Menschen angenommen wurde, grundlegend gewandelt hat: Die bis dahin herrschende cartesianische Konzeption, die den Menschen im Sinne eines strengen Dualismus von Erkenntnis-Subjekt und biologischem Lebewesen entsprechend der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zergliederte, wurde weitgehend aufgegeben. Es wäre übertrieben, wenn man behauptete, mit den neuen Erkenntnissen habe sich ein neues Menschen-Paradigma durchgesetzt. Aber in einer Fülle von Forschungen ist deutlich geworden, dass es konzeptionelle und empirische Verbindungen zwischen den vorher getrennten Teilen gibt. Ausgerechnet das Gehirn des denkenden und erkennenden Subjekts hat unter neurobiologischem Gesichtspunkt keine extra-biologische Sonderstellung - es ist selbst ein körperliches Organ und kein computerartiges digitales Gerät, das ohne Verbindung mit der Beschaffenheit und dem Funktionieren des Körpers arbeiten würde.
In der Philosophie ist seit einiger Zeit - unabhängig vom Erfolg der Gehirnforschung (die hier eher als irritierend aufgefasst wird) - die Vorstellung vom Menschen als primär erkennendes, von seinem Körper getrenntes Subjekt zunehmend von einer anderen Konzeption abgelöst worden. Denken, Erkennen, Bewerten werden heute als Prozesse aufgefasst, die aufs engste mit dem Körper des Subjekts verbunden sind; sie werden in der gegenwärtig gebräuchlichen Sprechweise als "embodied", als verkörperlicht bezeichnet. Wenn wir uns vorstellen, dass sie als ein materielles Geschehen wesentlich im Gehirn vor sich gehen, und wir uns ebenfalls klar machen, dass das Gehirn als körperliches Organ u.a. durch Nervenbahnen, Blut- und Hormonsystem mit Körperzuständen verbunden ist, erscheint der Grundgedanke des "embodiment" von Denken, Fühlen, Erkennen, Bewerten alles andere als befremdlich. Dass uns diese Überlegung vertraut wird, bedeutet allerdings nicht, dass wir schon wüssten, wie dieser Zusammenhang zustande kommt - ob er eine kausale Verknüpfung darstellt oder anders aufzufassen ist, womöglich gar auf metaphysischer Grundlage zu begründen wäre. Es bedeutet noch nicht einmal, dass wir schon eine Übereinstimmung darüber hätten, was eine Emotion ist.
Wenn wir die Differenzen zwischen den Emotionstheorien verschiedener Epochen außer acht lassen und sie stattdessen direkt miteinander vergleichen, vergeben wir ein bedeutendes Potential, das unser gegenwärtiges Verständnis bereichern und klären kann. Diesen Standpunkt erläutert Dominik Perler in seinem Beitrag "Wozu philosophiehistorische Emotionsforschung?" Von historischen Emotionstheorien kann man keine Anleitungen für besseres, kompetenteres Forschen erwarten. Dies nicht etwa darum, weil sie nicht mehr zeitgemäß sind, sondern aus methodologischen Gründen: Es gibt keine überhistorischen Strukturen, die festlegen, was zu erklären ist und wie eine Erklärung beschaffen sein könnte. Es steht von vornherein gar nicht fest, worum es geht, wenn wir nach einer Emotion fragen. Welche Aspekte kann ein moderner Forscher wie Edmund Rolls einbeziehen, wenn er sich daran macht, das "Glücksgefühl" zu erklären?
Rolls nimmt an, das Glücksgefühl bestehe aus einzelnen Zuständen, die kausal verursacht werden und zu bestimmten Zeitpunkten auftreten. Vergleicht man aber Rolls' Explikation von "Gefühl" mit der Erklärung, die Francisco Suárez im 16. Jahrhundert in De passionibus, über die Passionen, gibt, zeigt sich, wie wenig angemessen die moderne Position gegenüber dem Prozesscharakter der Emotionen ist; sie übersieht jene Leistungen der Emotion, die Suárez mit Nachdruck hervorhebt: ihre Fähigkeit der Evaluation, des Intellekts und des Willens. Menschen sind Emotionen nicht ausgeliefert, sondern können sie rational steuern, sind also auch für sie verantwortlich - diese haben also eine wesentlich ethische Dimension. Für Perler bedeutet dies nun nicht, dass man der Konzeption aus dem 16. Jahrhundert den Vorzug geben sollte; dies wäre aufgrund ihrer metaphysischen Prämissen keine denkbare Lösung. Was wir aber sehen können, ist die Tatsache, dass die Explananda und die Art und Reichweite der Erklärungen beider Theorien sich außerordentlich unterscheiden. Dennoch tragen beide zur Forschung über Emotionen bei; dies ist möglich, weil sie gewisse vergleichbare "Ähnlichkeitsmuster" aufweisen. Beiden Philosophen geht es um ein "familienähnliches" Problem, ihre unterschiedlichen Explikationen richten aber eine Verwirrung an, die dem Beobachter die Möglichkeit gibt, "ein philosophisches Problem genau (zu) kennen".
Philosophische Reflexion gibt uns keine Erklärungen von Emotionen; sie trägt aber dazu bei, Klarheit zu schaffen, wo vorher Verwirrung geherrscht hat. Auch im zweiten philosophischen Beitrag dieses Bandes, von Hilge Landweer, geht es um das Streben nach Orientierung. Ähnlich wie Suárez betrachtet sie Emotionen als sensitive Instrumente, mit denen wir Situationen erschließen und angemessen auf sie reagieren können. In dieser Sichtweise lösen sie damit gleich zwei Probleme, vor die wir gestellt wären, wenn wir ausschließlich auf Kognition und das Befolgen expliziter Regeln angewiesen sein würden. Emotionen sind auf den intentionalen Gehalt von Sachverhalten gerichtet; sie sondieren eine Situation unter dem Aspekt einer kulturellen Interpretation: Sie sind gleichsam Prüfgeräte, die uns sagen, ob wir vor einem Tier Angst haben müssen, wie wir uns gegenüber einer anderen Person verhalten sollten, was man hier und jetzt von uns erwartet. Mit dieser letzten Information, über die Anforderungen, die eine Situation an uns stellt, nimmt die entsprechende Emotion eine deutlich moralische Färbung an, insofern sie die normativen Gehalte von Situationen erfassen kann. Mit dieser Fähigkeit stellen Emotionen eine Voraussetzung für moralisches Urteilen und Handeln dar. In unserem Gespür für das Angemessene ist eine kognitive Komponente enthalten; sie wirkt unterhalb der Bewusstseinsschwelle und erzeugt mit leiblichen Reaktionen ein feines Sensorium für die passende Antwort auf einen spezifischen Sachverhalt. Kognitive Analysen und rational gesteuerte Antworten könnten die Besonderheiten von gegebenen Situationen und ihren je spezifischen Sinn für die Handelnden nicht auf den Begriff bringen. Erst wenn wir einen Sinn für Angemessenheit ausgebildet haben, sind wir in der Lage, uns durch Selbstbindung den für wertvoll erkannten Normen zu verpflichten und somit als moralische Wesen zu handeln.
Menschen bilden im Laufe ihrer frühkindlichen Entwicklung einen Sinn für Kooperation mit ihren Artgenossen heraus; die Ergebnisse der Forschungen von Michael Tomasello und seiner Mitarbeiter zeigen, dass es sich um ein sehr feines Gespür handelt, das schon früh im Leben eines Kindes wirksam wird. Besonders markant wird in diesen Arbeiten der Unterschied zwischen Menschen und Schimpansen, der sich ab dem 9. Monat auftut und zunehmend vergrößert. Um den ersten Geburtstag herum tritt bei Kindern die Fähigkeit zu Tage, miteinander zu kooperieren und zu kommunizieren. Tomasello verwendet zur Beschreibung ihrer kooperativen Fähigkeit und Empathie das Vokabular der Kognitionspsychologie, aber seine Ausführungen zeigen deutlich, dass die Kinder nicht von intellektuellen Kognitionen geführt werden, sondern von einem "Sinn" für die Gemeinsamkeit der menschlichen Gruppe, der sich in ihrem emotiven Verhalten äußert.
Kleinkinder beteiligen sich an gemeinsamen Aktivitäten mit anderen (mit der Gruppe und mit Erwachsenen), die eine geteilte Intentionalität erfordern, beispielsweise an Spielen und kommunikativen Tätigkeiten (zum Beispiel am gemeinsamen Aufräumen). Über ein Verstehen der Absichten der anderen hinaus - das auch die Primaten entwickeln -, teilen sie die Aufmerksamkeit mit ihren Partnern und richten sie auf ein Drittes, ein externes Objekt (z. B. einen Ball); sie bilden ein "triadisches Teilen", das auf ein gemeinsames Ziel gerichtet ist. Zwischen 12 und 18 Monaten tauschen sie ihre Rollen in der Interaktion; sie können dabei auch die Rolle von Erwachsenen einnehmen: Sie werden fähig, in einer kooperativen Situation das für die Gruppe Angemessene zu spüren und in die Tat umzusetzen.
In den Bereich der Evolutionären und Vergleichenden Psychologie fällt auch die Arbeit von Katja Liebal. Ihr Schwerpunkt liegt auf der artvergleichenden Forschung; sie fragt danach, welche Eigenschaften und Verhaltensweisen Menschen von nichtmenschlichen Primaten unterscheiden. Können Affen Emotionen empfinden, die mit jenen der Menschen vergleichbar sind und diese womöglich auch kommunizieren? Die Fähigkeit zu sprechen ist für die Empfindung von Emotionen und deren Ausdruck auch bei Menschen nicht unbedingt erforderlich; wie Menschen verwenden Affen aber intentional gerichtete Gesten und verfügen sogar über eine ausgeprägte Mimik.
Aus Liebals vergleichenden Untersuchungen geht hervor, dass sich bei nichtmenschlichen Primaten ein (allerdings begrenztes Repertoire) kommunikativer Gesten findet, die zudem an spezifische Handlungen zwischen Sender und Empfänger gebunden sind, etwa Gesten der Versöhnung und des Bettelns. Eine gemeinschaftsbezogene, verallgemeinerte Gestenkommunikation findet man bei ihnen jedoch nicht: Affen setzen Gesten ausschließlich in dyadischen Beziehungen ein (ein Affe stellt mit ihrer Hilfe eine direkte Verbindung zwischen sich selbst und einem Artgenossen her). Schon Kleinkinder hingegen nutzen Gesten gezielt in triadischen Beziehungen, um mit ihnen die Aufmerksamkeit eines anderen auf etwas Drittes zu lenken. Andererseits verfügen Affen aber über eine Vielzahl von Gesichtsausdrücken. Deren Erforschung ist jedoch schwierig, da sie menschlicher Mimik zwar ähnlich sind, häufig aber ganz andere Funktionen als beim Menschen erfüllen. Mit ihrem Team hat Liebal eine standardisierte Methode entwickelt, mit der sich Gesichtsausdrücke von Gibbons und kleinen Menschenaffen klassifizieren, sich ihr Auftreten in spezifischen Kontexten untersuchen und mit dem sozialem Gebrauch menschlicher Mimik systematisch vergleichen lässt.
In engem Zusammenhang mit Michael Tomasellos Arbeiten stehen Katja Liebals vergleichende Untersuchungen zu den sozialen Emotionen Scham und Mitleid bei Affen und 18 Monate alten Kleinkindern. Wie verhalten sich beide Gruppen einem Artgenossen gegenüber, von dem sie beobachtet haben, dass er emotional verletzt worden ist? Bei kleinen Kindern lässt sich experimentell nachweisen, dass sie eine klare Tendenz haben, einem Mitmenschen zu helfen, wenn diesem ein Missgeschick passiert ist. Ein analoger Versuchsaufbau für Affen zeigt hingegen, dass Affen keine oder nur geringe Hilfsbereitschaft erkennen lassen. Während also Mitgefühl und Mitleid bei Kindern bereits sehr früh und deutlich ausgeprägt sind, können entsprechende soziale Gefühle bei Affen nicht beobachtet werden. Ob dieser Erkenntnisstand den Versuchsbedingungen im Labor geschuldet ist oder ob soziale Emotionen tatsächlich für Menschen charakteristisch sind, lässt sich gegenwärtig noch nicht mit Sicherheit entscheiden.
Mitgefühl und Mitleid stehen auch im Mittelpunkt der Studie von Winfried Menninghaus und Julian Hanich. Gilt noch heute das melodramatische Genre neben dem des Horrorfilms als "Emotionsmaschine" (Ed Tan), so hat die von der Forschung fast ausnahmslos akzeptierte Verengung auf die Emotion der Trauer den Blick verstellt für die hochkomplexe Dramaturgie verschiedener Emotionen, die dem melodramatischen Film zugrunde liegt. Dass die notorische Tränenrührseligkeit des Genres gerade nicht auf den Versuch des Regisseurs zurückgeht, den Ausdruck von Trauer im Film unmittelbar in Szene zu setzen, zeigen Menninghaus und Hanich an einer Szene aus dem Melodram 21Grams von Alejandro Gonzáles Iñárritus. Ihr mikroanalytisches Vorgehen erweist nämlich, dass es für die Wirkung des Melodrams auf eine genau kalkulierte Abfolge verschiedener Emotionen ankommt und der Zuschauer sich einem "Wechselbad der Gefühle" ausgesetzt sieht.
Menninghaus und Hanich gehen noch mit einer weiteren Annahme ins Gericht, dass nämlich die emotionale Wirkung, die die melodramatische "Pathosszene" auf den Zuschauer hat, wesentlich auf der Identifikation mit der (leidenden) Hauptfigur beruhe. An Iñárritus Film lässt sich statt dessen zeigen, dass die "ästhetische Distanz", die der Zuschauer gegenüber dem Kunstwerk einnimmt, keinesfalls zugunsten affektiver Durchschlagskraft aufgehoben wird. Die Argumentation der beiden Autoren verneint die These, der Zuschauer müsse "einfach immersiv im Bild versinken". Im Gegenteil wird von Iñárritus dessen "Beobachterposition" eher noch gestärkt; durch die Kameraführung und die Choreographie der Schauspieler wird der Zuschauer von dem szenischen Geschehen ferngehalten. Paradoxerweise aber, so lautet das Fazit, erreicht der Film mit dieser Technik zielsicher seine ästhetischen Absichten. Denn gerade die Beobachterposition zwingt den Zuschauer, der Bewegung des Films zu folgen, sie gewissermaßen am eigenen Leib nachzuvollziehen im ständigen Bemühen, näher an das gezeigte Geschehen heranzukommen, kurz, das "Wechselbad der Gefühle" als ästhetisch getrimmtes "Bewegtsein" zu erleben.
Affektive und ästhetische Prozesse beim Lesen sind das Forschungsthema von Arthur Jacobs Beitrag. Ästhetische Erfahrung wird landläufig mit emotionalen, ja körperlichen Erfahrungen verbunden; bisher jedoch hat sich die experimentelle und kognitionspsychologisch ausgerichtete Leseforschung nicht für diese Prozesse interessiert. In der von Jacobs entwickelten Forschungsrichtung wird nun danach gefragt, "wie Gefühle beim Lesen zustande kommen und wie man sie systematisch beeinflussen kann". Emotionale Effekte sprachlicher Elemente lassen sich experimentell auf drei Ebenen nachweisen: als subjektiver Bericht, als Verhaltensdaten und als messbare Hirnaktivität.
In ihrem Buch "Gehirn und Gedicht" (München 2011) haben der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott und Arthur Jacobs eine "heiße experimentelle Leseforschung" vorgeschlagen, die, anders als die auf "Informationsverarbeitung" hin kalibrierten "kalten" Modelle, emotionale, selbstreflexive und evaluative Vorgänge einbezieht. In seinem Beitrag für diesen Band stellt Jacobs die gemeinsamen Überlegungen zu einem "zukünftigen Prozessmodell der Poesierezeption" und erste mit neurowissenschaftlichen Methoden erzielte Ergebnisse vor. Ausgangspunkt ist die literaturwissenschaftliche Strukturanalyse, die um Hypothesen über die psychischen Wirkungen poetischer Textmerkmale erweitert wird. Beispielhaft seien hier zwei Hypothesen genannt: Die Hypothese der Symbolverankerung besagt, dass Lesen dieselben oder ähnliche neuronale Assoziationsareale aktiviert wie die ursprünglichen sensomotorischen Reizungen. Die zweite Hypothese postuliert, dass die genuin poetische Qualität eines Textes aus der Abweichung von Bekanntem und Vertrautem resultiert. Diese Differenzqualität wird in der neurokognitiven Forschung als Verhältnis von Abweichung und Standard expliziert.
Beim Lesen treffen zwei Prozesse aufeinander: eine im "Hintergrund" automatisch und schnell ablaufende Verarbeitung trifft auf eine stärker kontrollierte, bewusste und langsamer im Vordergrund sich vollziehende. In poetischen Texten (aber nicht ausschließlich in solchen) treten verstärkt Elemente auf, die im "Vordergrund" prozessiert werden müssen. Zwischen Hintergrund- und Vordergrundelementen entsteht so eine Spannung, die sich in einem unbewussten Urteil auflöst: in dem Gefühl, dass alles gut zusammenpasst. Eine der ästhetischen Wirkungen dieses Prozesses ist die Entdeckung neuer Bedeutungen und "ein Sich-Ändern der Realität". Im "Hin und Her zwischen adaptativen und assimilativen Vorgängen" springt gleichsam das "Lustsystem des Gehirns" an, und das Gefühl ästhetischer Befriedigung, des Empfindens von "Schönheit", stellt sich ein.
Dass die von Arthur Jacobs aus neurowissenschaftlicher Perspektive dargestellten Prozesse ästhetischen Erlebens sich nicht auf Literatur beschränken, verdeutlicht der Beitrag von Stefan Koelsch, der sich, ebenfalls aus der Sicht des Neurowissenschaftlers, den von Musik hervorgerufenen Emotionen widmet. Wie zahlreiche Laborexperimente verlässlich gezeigt haben, ist auch für die Musikrezeption das Verhältnis von Bekanntem zu Unbekanntem entscheidend, reagiert auch hier das Gehirn mit Befriedigung, wenn die automatische und weitgehend unbewusst verlaufende Fortschreibung einer musikalischen Logik irritiert und eine "Erwartung" enttäuscht wird, sofern diese Irritation durch einen unerwarteten Kunstgriff des Komponisten aufgelöst wird. Wie Koelsch zeigen kann, aktiviert die Auflösung der Spannung das Belohnungszentrum im Gehirn und wird Dopamin ausgeschüttet, derjenige Neurotransmitter also, der für das sich einstellende Glücksgefühl entscheidend ist.
Von hier aus schlägt Koelsch einen weiten Bogen, der sowohl theoretische wie therapeutische Fragen zusammenführt. Denn wenn musikalisch induzierte Emotionen tatsächlich Änderungen in der Hippokampus-Formation zur Folge haben, zeichnet sich eine Möglichkeit ab - das ist die therapeutische Konsequenz -, mittels Musiktherapie diese Hirnregion zu stimulieren und damit möglicherweise deren (durch ein traumatisches Erlebnis bewirkte) Verkümmerung aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen. Daneben gibt - das ist die theoretische Konsequenz - die Aktivierung der Hippokampus-Region einen Hinweis, die hier lokalisierten Emotionen von denen zu unterscheiden, die das Belohnungssystem des Gehirns beeinflussen, und so einer Vereinfachung entgegenzuwirken, die Spaß und Glück aus durchsichtigen Motiven gern in eins setzen möchte.
Mit der Oper diskutiert Clemens Risi eine Kunstgattung, in der es seit ihrer Entstehung zu Beginn des 17. Jahrhunderts geradezu programmatisch um die Erzeugung von Emotionen geht. Seit ihren Anfängen stehen Theorien der Affekte im Zentrum des Interesses von Komponisten, Regisseuren und Darstellern. Ihnen geht es um die Anwendung theoretischer Erkenntnisse auf die musikalische und theatrale Darstellung der Affekte sowie um ihre Übertragung auf die Zuhörer und Zuschauer. Wie stark das Interesse der Komponisten von empirischen Affekttheorien geleitet ist, demonstriert Risi an zwei Epochen der Operngeschichte, dem 17. Jahrhundert und dem Zeitalter Verdis und Wagners. Für die frühe Oper spielt das physiologisch-physikalische Wissen eine bedeutende Rolle; exemplarisch zeigt sich dies an der Affekttheorie des Universalgelehrten Athanasius Kircher. Während dieser seiner Theorie eine geradezu prognostische Kraft zutraut, räumt er auf der anderen Seite den Einfluss des Unberechenbaren und Unvorhersehbaren ein: Was bei der Affektübertragung sich tatsächlich ereignet, entscheidet die "performative Realität".
Die Komponisten des 19. Jahrhunderts interessieren sich weiterhin für Fragen der Affektübertragung, allerdings von anderen theoretischen Voraussetzungen her. Sie wird jetzt nicht mehr als eine von außen hereinbrechende Kraft angesehen, sondern als ein "von innen entstehendes Gefühl". Verdi und Wagner teilen mit den Komponisten des 17. Jahrhunderts die Annahme, dass sich der Affekt "nur in der Aufführung überträgt". Erkennbar wird diese Überzeugung zum einen an der Fülle der Aufführungshinweise, zum anderen an ihrer Einflussnahme auf die Besetzung der Rollen, die selbst noch physiognomische Details vorzuschreiben bestrebt war. Im Unterschied zu Monteverdi versuchten Wagner und Verdi mit ihrem Streben nach Planbarkeit und Wiederholbarkeit sogar, die körperlichen und emotionalen Reaktionen ihres Publikums optimal zu steuern. In ihren mehr oder weniger manipulativen Praktiken drückt sich jedoch zugleich die Ahnung aus, dass sich der Erfolg der Affektübertragung im einmaligen Augenblick der Aufführung entscheidet.
Ähnlich wie in der Oper richtet sich die Emotionalisierung der Religion auf die Erzeugung von Gefühlsräumen, in denen es zur Affektübertragung kommt. Die "Re-Emotionalisierung" von Religion ist denn auch das Thema des Beitrags von Regine Herbrik und Hubert Knoblauch. Im Lichte der modernen Ideologie der Säkularisierung findet gegenwärtig eine forcierte "Irrationalisierung" des Religiösen statt, die unterstützt wird durch Strategien des Medieneinsatzes, insbesondere von Bildmedien. In der Religion kann das Emotionale als Aspekt sinnhaften Handelns (Max Weber) aufgefasst werden: Angelehnt an die Wissenssoziologie lässt sich untersuchen, wie ein Wissen über Emotionen und ein Wissen mit Hilfe von Emotionen hervorgebracht werden. Beide Arten von Wissen werden im körperlichen und sinnlichen Vollzug von Performanzen erworben: In rituellen Abläufen religiöser Kommunikation werden den Handelnden Gefühlsregeln und Bewertungsmaßstäbe für das geforderte Verhalten vermittelt. Auf diese Weise werden Ausdrucksmodelle bestimmter religiöser Stile ausgeprägt, die vorgeben, wie man sich in diesen Kommunikationen zu verhalten und was man zu fühlen hat. Mit Hilfe von Emotionen wird ein Wissen erworben, wenn die Gläubigen eingeladen werden, sich in eine bestimmte biblische Person hineinzuversetzen und deren Gefühle zu vergegenwärtigen (in der sogenannten Thomas-Messe).
In der emotionalisierten Religion haben Bildleinwände, Monitore und Flachbildschirme einen festen Platz erhalten; ihre Präsenz verdoppelt die liturgischen Elemente. Im Spiel von Sehen und Gesehen-Werden entstehen Rückwirkungen auf das emotionale Erleben der Gemeinde. Herbrik und Knoblauch zeigen dies an zwei schlagenden Beispielen, einem großen Taizé-Treffen und dem Papstbesuch 2011 in Berlin. Im ersten Fall wurde der ergreifende Mittelpunkt der Messe, das Weitergeben des Kerzenlichts von Teilnehmer zu Teilnehmer, durch das Blitzlicht unzähliger Handyaufnahmen der Beteiligten in ein Event verwandelt. Beim Papstbesuch wurden von den Veranstaltern große Bemühungen aufgewendet, populäre Kommunikationsformen systematisch auszugrenzen. Der "Einbruch des Pop" war jedoch nicht aufzuhalten - selbst bei Klerikern brachen sich Kundgebungen der Verehrung wie bei Celebrities Bahn. Die Akte der Verehrung wurden selbst wieder Objekte der Mediatisierung; sie wurden vom Fernsehen in alle Welt ausgestrahlt. Die beiden Beispiele zeigen aktuelle emotionale Stile, die die Subjekte gefühlsmäßig in die Religion integrieren, als Teil der kommunikativen Ausdrucksformen der Gesamtgesellschaft.
In diametralem Gegensatz zu den emotional aufgeladenen religiösen Ritualen in der Gegenwart hat sich die Haltung der "Coolness" entwickelt. In ihrem Beitrag zeichnet Ulla Haselstein drei Etappen ihrer Entstehung und Ausfaltung nach. Ihre frühe erste Ausprägung findet sich in der Erzählliteratur. So schildert E.A. Poe in "The Man of the Crowd" einen Typus Mensch, der, wenn man ihn in der soziologischen Perspektive Simmels interpretiert, charakteristisch für die großstädtischen Massen des 19. Jahrhunderts ist: Darauf angewiesen, die unbekannten anderen Menschen zu beobachten, schließt er sich in eine Haltung der "Unlesbarkeit" ein.
Eine Maskierung ihrer Gefühle und kühle Selbstkontrolle entwickeln auch schwarze Jazzmusiker in den 1940er und 1950er Jahren, die auf diese Weise die Vorurteile des weißen Establishments konterkarieren. Zu dieser Zurschaustellung psychischer Unverwundbarkeit kommt als entscheidender zweiter Zug der ästhetische Lebensstil einer neuen Bohème hinzu. Angesichts der Maskierung von Gefühlen wird leicht übersehen, dass er die Coolness zugleich unterläuft. Eine weitere Schicht wird von den Beats hinzugefügt: von der doppelsinnigen emotionalen Struktur der schwarzen Jazzmusiker wollen sie zu einer "burning ecstasy", zum Erleben authentischer Gefühle gelangen. In der Gegenwart ist "cool" zu einem allgemein verwendeten positiven Attribut verflacht. Maskierung und Unlesbarkeit spielen immer noch eine wichtige Rolle; auch heute ist die emotionale Distanz zu Anderen und zu sich selbst wichtig für das Gefühlsmanagement, beispielsweise bei der Abwehr von Ängsten und Vorurteilen.
Selbstinszenierung spielt auch für die Fans in den Fußballstadien eine maßgebliche Rolle. Doch kann man bei ihnen eine tiefere Schicht der Person entdecken, die man einem Massenphänomen nicht ohne weiteres zutrauen würde. Wie Gunter Gebauer in seinem Beitrag "Kollektive Emotionen und Glaube" darlegt, geht es ihnen um das Fühlen ihres Ichs. Mit dieser These stellt er sich den üblichen Deutungen von Massen entgegen, die einen Ich-Verlust und ein Aufgehen der Person im kollektiven Geschehen behaupten. Mit seinen Überlegungen bezieht er sich auf einen ebenso eigenwilligen wie tiefgehenden Vortrag Wittgensteins über das "Gefühl der absoluten Sicherheit", das dem Ich die Gewißheit seiner Existenz gibt. Eine solche Sicherheit kann die Person nicht durch Denken erreichen; sie kann ihr auch nicht von außen, von der Gesellschaft gegeben werden - sie kann nur in ganz bestimmten Erlebnissen erfahren und letzten Endes nur geglaubt werden. Eine Person empfängt die Gewissheit ihres Ichs im gemeinsamen Leben ihrer sozialen Gruppe. Im emotionalen Geschehen einer Fangruppe wird ein starkes kollektives Gefühl eines gemeinsamen Wir ausgebildet, das mit der Verehrung herausragender Fußballspieler einen religiösen Charakter annimmt: Die Welt der Fans ist eine Welt des Glaubens - eines Glaubens an die Heroen auf dem Rasen, an die eigene Gruppe und das Ich jedes einzelnen Fans.
Um die Spannung zwischen zwei verschiedenen Inszenierungsstrategien des Kriegsfilm-Genres und damit zwischen zwei gegensätzlichen Strategien, das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ästhetisch zu gestalten und ein "Gemeinschaftsgefühl" zu stiften, geht es Hermann Kappelhoff in seinem Beitrag zur "Affektmobilisierung". Anhand des Vergleichs von Leni Riefenstahls Tag der Freiheit - Unsere Wehrmacht von 1935 und der ersten Episode aus Frank Capras Why-We-Fight-Serie von 1943-45 tritt Kappelhoff der in der Forschung weit verbreiteten Auffassung entgegen, dass Capras Propagandafilme ästhetisch in die Schule der NSDAP-Propagandistin Riefenstahl gegangen seien und deren Filmen darum fundamental ähnlich sähen. Wie die genaue Analyse zeigt, schlägt sich die gegensätzliche Auffassung der Rolle des Individuums im Verhältnis zur Gemeinschaft in einander entgegengesetzten Inszenierungsstrategien nieder.
Während Leni Riefenstahl in Tag der Freiheit die Auflösung individueller Merkmale der neuen Wehrmachtsrekruten in die Gemeinschaft feiert und in einer kunstvollen Steigerung die "alltägliche Körperlichkeit" der jungen Männer in einen Wehrmachtskörper überführt, dessen höchster Ausdruck nicht mehr Menschen, sondern erst Massen, dann Maschinen sind, antwortet Capra mit einem geradezu "dekonstruktivistischen Verfahren", das die faschistischen Rituale der Vergemeinschaftung mit den Mitteln des Kinos analysiert. Waffentechnologie wird hier nicht, wie bei Riefenstahl, zur Apotheose der Gemeinschaft, sondern als Instrument zur Zerstörung inszeniert. Auch wenn die technischen Verfahren, mit denen Capra sinnliche, ästhetische und affektive Wirkungen erzielt, denen Leni Riefenstahls durchaus ähnlich sind, behält bei Capra das Individuum seine Verletzlichkeit und seine Autonomie gegenüber dem Impuls zur Verschmelzung mit der Gemeinschaft. Wie bei den Fan-Ritualen im Fußball, lautet auch hier der Befund, dass die Heroisierung der Gemeinschaft mit einer Heroisierung des Ichs vereinbar ist.
Gefühle von Menschen hängen eng mit ihrer sozialen Lage zusammen. Diese Beziehung von gesellschaftlichem Sein und subjektivem Fühlen sind Gegenstand des Beitrags von Christian von Scheve. Als Beispiele sozial generierter Emotionen diskutiert er Angst und Ärger in Beziehung zur Position im hierarchischen Gesellschaftsgefüge. Seine Ausgangsüberlegung ist die Annahme, dass eine (soziologisch feststellbare) soziale Ungleichheit Auswirkungen auf das subjektiven Erleben und dieses wiederum negative Folgen für die geistige und körperliche Befindlichkeit hat: Für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden ist offenbar die Position eines Menschen im Schichtgefüge einer Gesellschaft ausschlaggebend.
Von der jeweiligen Position im sozialen Raum werden auch Angst und Ärger hervorgerufen, allerdings auf unterschiedliche Weise und mit verschiedenartigen Folgen. Angst als ein diffuses und nichtgegenstandsbezogenes Gefühl führt vornehmlich zu Abwarten, Passivität und Risikovermeidung. Ärger hat hingegen offensives Verhalten, hohes Aktivitätsniveau und Risikobereitschaft zur Folge. Beide Emotionen hängen, wie Studien zeigen, eng mit beruflichem und sozialem Status, Einkommen und Bildung zusammen. Als allgemeiner Trend ist festzustellen: Nachteilige Lebensumstände führen zum Empfinden negativer Emotionen und können durch subjektives Erleben noch verstärkt werden. Für diesen Zusammenhang sind nicht allein die materiellen Bedingungen ausschlaggebend - "ebenso bedeutend ist die soziale Position relativ zu anderen Menschen in der Gesellschaft". Bestimmte Emotionen wie Angst und Ärger können so zu "einer Verfestigung bestehender Ungleichheiten beitragen".
Der Band schließt mit einer ethnologischen Studie über Emotionen im Zusammenhang von Erinnerungen an erlittene Gewalt. Sina Emde stellt ihre Forschungen zur Aufarbeitung und Bewältigung von Gewalt vor, die vom Terrorregime der Roten Khmer (1975 - 1979) in Kambodscha verübt wurde. Von den Auswirkungen der Verbrechen, von Hunger, Überarbeitung und Krankheiten ist nahezu jede Familie des Landes betroffen. Auch in diesem extremen Fall wird das Erleben des Erinnerns von den spezifischen Gefühlsregeln der Kultur reguliert, die zum einen staatlich, zum anderen religiös geprägt sind. Sie legen fest, was öffentlich geäußert werden kann und was zu verschweigen ist.
Von Seiten des Staats wird eine Erzählung des kollektiven Leids entwickelt: In die "Nation der Opfer" werden auch die Täter - mit Ausnahme der Führungszirkel um Pol Pot - eingeschlossen. An designierten Orten der Gewaltausübung, wie den "killing fields" und Foltergefängnissen, finden staatlich organisierte Erinnerungsrituale statt. Am nationalen Feiertag ("der Tag, der die Wut bindet"), der an die Grausamkeit der Pol-Pot-Zeit erinnert und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung begangen wird, findet eine hoch emotionale Aufführung statt, die im Gegensatz zu der üblichen Emotionskontrolle steht. ImUnterschied zu dieser "standardisierten kollektiven Erinnerung" an nationalen Gedenktagen wird das Erinnern im täglichen Leben auf der lokalen Ebene vom Buddhismus, der prägenden Religion Kambodschas, bestimmt. Nach dem karmischen Deutungsmuster von Geburt, Tod und Wiedergeburt kommt es darauf an, sich von Emotionen zu befreien. In dieser Sicht wirken Rituale, insbesondere Ahnenrituale, als "Ventile", die zur Überwindung oder "Transformation" negativ bewerteter Emotionen wie Wut und Ärger eingesetzt werden.
Als nicht-verbale Formen der Aufarbeitung transferieren Rituale die Erinnerung von der staatlichen Ebene in die Welt der Verwandtschaft. Auf diese Weise verflechten sich staatliche und zivilgesellschaftliche Praktiken zur Rekonstruktion einer Gemeinschaft, die ein Zusammenleben von Tätern und Opfern ermöglicht. An Sina Emdes Arbeit wird exemplarisch gezeigt, wie unter dem Einfluss von religiös geprägten Gefühlsregeln eine rituelle Erinnerungskultur geschaffen wird, die sich fundamental von europäischen Vorstellungen der Bewältigung von Vergangenheit unterscheidet. Tiefste Emotionen finden hier einen Ausdruck im rituell geprägten Verhalten - in Ritualen des Schweigens.
Wozu philosophiehistorische Emotionsforschung?
Methodologische Überlegungen
Dominik Perler
1.Philosophiehistorische Forschung - eine Selbstverständlickeit?
Wer nach dem Sinn oder Zweck philosophiehistorischer Emotionsforschung fragt, scheint eine jener typisch rhetorischen Fragen zu stellen, die in den Geisteswissenschaften immer wieder formuliert werden. Man wirft sie nicht auf, weil die Antwort völlig unbekannt ist oder weil eine neue, ganz verblüffende Antwort zu erwarten ist. Die Antwort steht vielmehr schon fest, und man stellt die Frage nur, damit man die eigene Disziplin und damit auch die eigene Forschungstätigkeit legitimieren kann. So scheint es sich auch in diesem Fall zu verhalten. Auf die Frage nach dem Sinn oder Zweck philosophiehistorischer Emotionsforschung gibt es mindestens drei wohlbekannte Antworten, die unmittelbar verdeutlichen, dass eine Beschäftigung mit Philosophiegeschichte wichtig und im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprogramms sogar unverzichtbar ist.
Erstens kann man sogleich darauf hinweisen, dass sich in verschiedenen Epochen der Philosophiegeschichte klassische Erklärungsmodelle für Emotionen finden, die eine Inspirationsquelle darstellen und auch heute noch rege diskutiert werden. Eine ausführliche Beschäftigung mit diesen Modellen dient dazu, die Vorlagen für heutige Diskussionen erkennbar zu machen und damit einen Einstieg in eine systematische Debatte zu ermöglichen. So hat das stoische Modell, das Emotionen als kognitive Zustände bestimmt, Anlass zu neueren kognitivistischen Theorien gegeben. Mit Rückgriff auf das antike Modell behaupten auch heutige Kognitivisten, dass Emotionen Urteile beinhalten oder sogar durch Urteile konstituiert werden. Konkret heißt dies, dass beispielsweise Freude über ein Geschenk durch das Urteil konstituiert wird, dass das Geschenk etwas Schönes und Angenehmes ist. Wollen wir die Struktur und die Genese dieser Emotion verstehen, müssen wir uns einer Analyse des Urteils widmen. Wir müssen untersuchen, welche Komponenten (zum Beispiel deskriptive und evaluative) das Urteil aufweist und durch welche kognitiven Prozesse es zustande kommt. Wenn wir die stoische Vorlage genau rekonstruieren, können wir auch die modernen Formen des Kognitivismus besser analysieren, denn auch in diesen Formen stehen die Struktur und die Genese des jeweiligen Urteils zur Debatte. Kurz gesagt: Die philosophiehistorische Rekonstruktion eines alten Modells hilft uns, ein heutiges Modell besser zu verstehen.
Zweitens kann man erwidern, dass in den klassischen Erklärungsmodellen typische Merkmale von Emotionen genannt werden, die auch heute noch im Mittelpunkt des Interesses stehen. So haben bereits mittelalterliche Philosophen darauf hingewiesen, dass Emotionen intentional sind, das heißt dass sie auf Objekte bezogen sind, die bestimmte Eigenschaften aufweisen. Genau dieses Merkmal wird auch in gegenwärtigen Debatten betont, und einige Autoren greifen sogar explizit auf mittelalterliches Vokabular zurück, um die Intentionalität zu charakterisieren. Sie sprechen vom "formalen Objekt" einer Emotion und betonen damit, dass Emotionen immer auf etwas bezogen sind, auch wenn kein materielles Objekt vorhanden ist. So kann man sich auch dann vor einem schwarzen Mann fürchten, wenn kein solcher Mann materiell vorhanden ist; das formale Objekt ist dann das Bedrohliche, mag es auch nur imaginiert sein. Und man kann auf die große Liebe des Lebens hoffen, wenn vollkommen offen ist, ob eine solche Liebe je aus Fleisch und Blut existieren wird; das formale Objekt ist in diesem Fall das Gute und Begehrenswerte. Viele Emotionen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nur auf ein formales und nicht auf ein materielles Objekt bezogen sind. Wenn wir nun auf mittelalterliche oder andere klassische Begriffsinstrumentarien zurückgreifen, können wir dieses besondere Merkmal präziser fassen. Philosophiehistorische Forschungen dienen also dazu, das analytische Instrumentarium zu schärfen und damit Merkmale oder Aspekte, die oft miteinander vermengt werden, sorgfältig zu unterscheiden.
Drittens schließlich lässt sich erwidern, dass klassische philosophische Erklärungsmodelle auch in den empirischen Wissenschaften rezipiert werden und sogar die Grundlage für empirische Forschungen bilden. Sehr anschaulich zeigt sich dies am Beispiel von William James. Im späten 19. Jahrhundert stellte er die These auf, eine Emotion sei nicht - wie häufig angenommen wurde - einfach der Auslöser für eine körperliche Veränderung, sondern selber die unmittelbare Reaktion auf eine solche Veränderung. Daher müsse man zuallererst diese Veränderung in den Blick nehmen. Konkret heißt dies, dass nicht etwa Angst ein Zittern auslöst, sondern dass umgekehrt die Angst durch ein Zittern oder durch einen anderen körperlichen Prozess hervorgerufen wird. Mit dieser These löste James eine Flut von physiologischen und psychologischen Studien aus, die untersuchten, welche körperlichen Prozesse hier relevant sind und welche Korrelationen zwischen körperlichen Prozessen und Emotionen bestehen. Will man verstehen, was diese Studien zu erklären versuchen, muss man das zugrunde liegende philosophische Modell in den Blick nehmen. Die philosophiehistorische Rekonstruktion dieses Modells hilft dann, die theoretischen Voraussetzungen empirischer Forschungen genau zu benennen.
Angesichts dieser drei Gründe könnte man nun triumphierend sagen: Philosophiehistorische Untersuchungen legen ein ganzes Reservoir an klassischen Theorien frei, die innerhalb und außerhalb der Philosophie immer noch aktuell sind. Wir können heutige Debatten erst adäquat verstehen und vorantreiben, wenn wir die jeweiligen Hintergrundfolien kennen. Damit hätte man natürlich die Aufgabe erfüllt, um die es in einem Selbstlegitimierungsdiskurs geht. Die eigene Forschungstätigkeit hätte sich als wichtig, ja als unverzichtbar herausgestellt.