Beschreibung
Nicht erst seit dem Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln sind Archive und ihre Rolle als Träger von Erinnerung, Repräsentation, Wissenskonstruktion und Herrschaftspraxis von Interesse. Die Autorinnen und Autoren beleuchten diese Zusammenhänge mithilfe eines erweiterten Archivbegriffs, der Akten, Sammlungen in Bibliotheken und Museen, aber auch Diskurse umfasst.
Autorenportrait
Anja Horstmann und Vanina Kopp sind Stipendiatinnen des Graduiertenkollegs "Archiv - Macht - Wissen" an der Universität Bielefeld.
Leseprobe
Aber was genau ist ein Archiv? Um sich dieser Frage anzunähern, soll eine allgemeine Definition vorangestellt werden: Das Archiv ist ein komplexes System, in dem verschiedene kulturelle Techniken und Materialien in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehen. Weitere Anhaltspunkte, die gleichsam Stoßrichtungen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Archiv vorgeben, liefert die Definition eines Dispositivs von Michel Foucault: "Es ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wie Ungesagtes umfasst. [] Das Dispositiv ist selbst das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich mit dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann." Die Parallelen zum Archiv werden in den folgenden Erklärungen deutlich, in denen das Dispositiv "als Operator [] zur Bearbeitung, Lösung gesellschaftlicher Problemlagen und Transformationsphasen verstanden werden" kann. Dabei ist das Dispositiv strategisch zu nutzen: "Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art - sagen wir - Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten." Diese Definition weist auf mehrere Aspekte hin, die ein Archiv auszeichnen: unterschiedliche Organisationen, Verknüpfungen zwischen der Gesellschaft und den Diskursen von Macht und Wissen, die den Fokus darauf richten, die Wirklichkeit in ihren als wesentlich betrachteten Elementen abzubilden. Jede Verschiebung oder Umcodierung eines Parameters bringt eine Verschiebung im Dispositiv mit sich und somit eine Änderung in der Perzeption der Wirklichkeit. Das Archiv umfasst eine Datenmenge, die je nach Belieben und Können umgeformt oder anders gelesen werden kann, um neue Sinnzusammenhänge zu kreieren oder sich neuen Begebenheiten anzupassen und bildet somit die Basis auf der sich Wirklichkeiten konstruieren können. Dies ist scheinbar mit der Vorstellung von klassischen, institutionellen Archiven schwer zu vereinbaren, wird aber umso einleuchtender, wenn man an die Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit von Erinnerungen oder von modernen (Speicher-)Medien denkt. An der Schnittstelle all dieser Überlegungen fragen die Autorinnen und Autoren dieses Buches auf der einen Seite danach, was für Formen und Ausprägungen Archive in unterschiedlichen Zeiten angenommen und wie Gesellschaften Wissen über sich gespeichert, geordnet und genutzt haben. Auf der anderen Seite soll analysiert werden, was diese Archive abbilden und welche Auswahlmechanismen nicht nur das Wissen und das Material, sondern auch die Zugänglichkeit und Kontrolle desselben konditionierten. Kurzum: In welche Wissens- und Machtstrukturen fügte sich das jeweils Archivierte, seien es amtliche Dokumente, private Buchsammlungen, Filme oder Erinnerungen, ein? Im Hintergrund zieht sich die methodologische Frage durch die vorliegenden Texte, wie historisch mit diesem Material umgegangen werden kann. Archiviertes ist einerseits Zeugnis einer Vergangenheit, andererseits auch Zeuge seiner Entstehung. Dieser Zusammenhang zwischen Realität und ihrer Repräsentation bewegt die (Geschichts-)Wissenschaft, wenn es um die Frage geht, wie Wirklichkeiten analysiert werden können, die ihrerseits durch die Überlieferung und ihre sozialen, politischen und diskursiven Bedingungen konstruiert sind. Das folgende lateinische Wortspiel illustriert anschaulich, dass keine Information (data) selbstverständlich gegeben (data) ist. Nutzer sind davon abhängig, welche Informationen unter welchen Bedingungen überliefert und wie diese institutionell und technisch zugänglich sind. Nicht zuletzt treten Historikerinnen und Historiker selbst als Akteure der Selektion auf, indem sie diese oder jene Informationen für ihre Forschung auswählen oder nicht. Dies bedeutet nicht nur, das Archivierte zu nutzen, sondern gleichzeitig die Bedingungen seiner Entstehung mit einzubeziehen. Etwas überspitzt ausgedrückt gilt es nicht, wie im Historismus, im Archiv alles als getreues Abbild der Wirklichkeit zu betrachten und zu edieren, um zu beschreiben, "wie es eigentlich gewesen ist". Denn der Blick ins Archiv täuscht, Selektionsprozesse und die daraus erfolgenden Leerstellen müssen immer mitgedacht werden: Das Eigentliche des Archivs ist "seine Lücke, sein durchlöchertes Wesen", das bedeutet, dass es ohne das Mitdenken dieser Leerstellen nicht möglich ist, eine Realität zu rekonstruieren. Deshalb ist es wichtig, Prozesse der Auswahl, der Inklusion (und noch viel häufiger der Exklusion), die dem Archiv inhärent sind, zu berücksichtigen. Dies gilt für die materielle und institutionelle Wirklichkeit des Archivs (was wird als archivwürdig betrachtet, was wird kassiert?) ebenso wie für die immaterielle und erweiterte Wirklichkeit (welche Spuren hinterlässt sie und wie werden diese gespeichert?). Diese Prozesse auszublenden würde bedeuten, den Bedingungen der Selektion, ihren Verlusten und Manipulationen, aufzusitzen. Der Umgang mit dem Zeichenträger, dem Archivmedium, muss in diesem Zusammenhang ebenfalls überdacht werden. Dies gilt sowohl für nichtamtliche und semi-institutionalisierte Bestände, als auch für neue Medien wie Fotografien oder Filme, die aus dem institutionellen Rahmen fallen. Es gilt nicht nur das Material handwerklich zu verstehen, sondern ebenso seinen Platz im diskursiven Archivraum wiederzufinden und zu reflektieren, das heißt die Bedingungen seiner Entstehung, den Prozess seiner Archivierung und der Benutzung. Insbesondere für immaterielle und diskursiv konstruierte Archive ist diese Reflexion notwendig, da ihnen die übliche Formatierung des Archivs per se fehlt. Gedanklich vorgegangen werden soll nicht institutions- sondern archivgebunden, denn dies ermöglicht, andere Archivkonstruktionen zu betrachten und zu analysieren. Der vorliegende Sammelband hat sich nicht zum Ziel gesetzt zu klären, was das Archiv ist, wohl aber, seine Rolle, seine diversen Ausformungen und Zusammenhänge aus kulturgeschichtlicher Sicht in sich wandelnden Wirklichkeiten zu untersuchen. Die Beiträge behandeln zwei grundlegende Fragen: Welche Archivkonstruktionen haben Gesellschaften hervorgebracht? Wie sind diese Spuren und Sedimente sozialer und kultureller Prozesse aus historischer Perspektive erforschbar? So unterschiedlich wie die Archivalien sind auch die sprachlichen Formen, die das Archiv beschreiben: Als das lateinische Derivat archivum im Jahre 1282 zum ersten Mal überliefert wurde, gab es bereits vorher und später verschiedene Namen und Formen des Archivs, wie sie in diesem Sammelband diskutiert werden. Zunächst bezeichnen Schriftarchiv, Urkundenarchiv samt Kanzlei oder gar Depot die disparaten materiellen Lokalitäten unter dem Fokus der Lagerung, die unter der Paraphrase vor dem Archiv subsumiert werden können. Solange institutionell und chronologisch das klassische Aktenarchiv eine Schimäre bleibt, treten Bibliotheken, einzelne Berichte oder Enzyklopädien als Träger eines kulturell konturierten Archivs auf. Ebenso geraten Dingarchive wie Museen und Monumente als Archivkonstruktionen in den Blick, die über ihre Ordnungen und Sammlungen jede Art Wissen und Gedächtnis speichern. In diesem Sammelband analysierte Archivkonstruktionen wie Register, Typologien oder Wissenskorpora bilden die Fähigkeit einer Kultur ab, sich Wissen zu vergegenwärtigen und Wirklichkeiten zu (re-)konstruieren, oder, nach Michel Foucault, Aussagen zu treffen. Archivbezeichnungen verändern sich jedoch im Laufe der Zeit, vor allem durch das Verhältnis des Archivierungswürdigen zu den technischen Verfahren. Filme und Bilddatenbanken bilden beispielsweise visuelle ebenso wie virtuelle Archive einer Epoche ab. Mit Diskursen oder Netzwerken, v...
Inhalt
Inhalt Einleitung Archiv - Macht - Wissen: Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven Anja Horstmann, Vanina Kopp Archive als Orte der Herrschaftspraxis Simancas - Ein Archiv um die Welt zu regieren? Archivwissen und Verwaltungshandeln zur Zeit Philipps II. Marc-Andre Grebe Informationsverdichtung als Herrschaftsintensivierung? Michael Aumüller Königliche Archive und Herrschaftsinformation am Beispiel des spätmittelalterlichen Frankreichs Vanina Kopp Das Schweigen der Subalternen - Die Entstehung der Archivkritik im Postkolonialismus Hubertus Büschel Archive als Orte der Wissenskonstruktion Offenbaren und Verheimlichen "vor dem Archiv" - Schriftlichkeit, Sichtbarkeit und Öffentlichkeit im spätmittelalterlichen Lüneburg Andreas Litschel Die Schrift der Sterne - Das ''astro-politische'' Archiv der Bibliothek Morandi Sabine Kalff Stören, Vergessen, Zerstören - Ein anderer Blick auf einen frühneuzeitlichen Kulturtransfer Mareike Menne Antiquarische Topik - Der Codex Pighianus und die Wissensverarbeitung der Frühen Neuzeit Kathrin Schade Das Museum als Sacharchiv - Deponieren und Exponieren von antiker Plastik in den Berliner Sammlungen des 19. Jahrhunderts Astrid Fendt Archive als Orte der (Re-)Präsentation und der Wandlung Das Zeigen, Vergessen und Erinnern von Pressefotografien - Zur Funktionsweise der Massenmedien als visuelles Archiv Maren Tribukait Film als Archivmedium und Medium des Archivs Anja Horstmann Das "Archiv des Bia?ystoker Judenrats" - Selbstbilder jüdischer Akteure in den Quellen des geheimen Ghettoarchivs 1941-1943 Karsten Wilke Die Rettung des Archivs - Ein Vorschlag zur Analyse eines Wissensnetzwerks Yaman Kouli Ausblick Vom Sammler zum Jäger - Überlegungen zur archivischen Überlieferungsbildung im nichtamtlichen Bereich Stefan Sudmann Autorinnen und Autoren