Beschreibung
Als die Dokumentarfilmerin Siba Shakib in einem afghanischen Flüchtlingslager Shirin-Gol begegnet, sieht sie nur den blauen Ganzkörperschleier, hinter dem die Frauen Afghanistans ihren Körper verstecken müssen. Doch als sie die ruhige weiche Stimme Shirin-Gols hört, spürt sie eine Kraft, die sie nicht mehr loslassen wird. Diese Frau will sprechen, will ihre Geschichte erzählen, die die Geschichte Tausender afghanischer Frauen ist. Es ist keine Geschichte, die um Mitleid heischt, denn Shirin-Gol ist wie eine kräftige Pappel, die den stärksten Stürmen stand hält, die alles sieht und alles versteht. Es ist vielmehr die ungeschminkte Wahrheit über das Leben im höllischen Paradies Afghanistan. Shirin-Gol, süße Blume, wird als neuntes Kind in einem abgelegenen Bergdorf geboren. Jahrhunderte alte Traditionen bestimmen ihren Weg, der geprägt sein wird von Armut, Korangläubigkeit, Unwissenheit und der Enge des islamischen Frauenbildes. Als die Russen 1979 in Afghanistan einmarschieren, um ein Übergreifen des iranischen Mullah-Regimes zu verhindern, gehen Väter und Brüder in die Berge - wie schon immer, wenn Fremde ihr Land zu erobern versuchten. Der kargen und zerklüfteten, menschenfeindlichen Wildheit des Hindukusch ist kein Eindringling gewachsen. Die älteren Töchter malen sich die Augen schwarz und die Lippen rot; sie legen den Schleier ab und umarmen liebeshungrige russische Kindersoldaten, um sie anschließend umzubringen. Schreckliche Normalität, die Shirin-Gol nicht begreift. Mit dem Vordringen der Russen fliehen die Frauen nach Kabul, in die stinkende, laute Stadt mit den "Nacktfrauen", die Arme und Beine unbedeckt zur Schau stellen. Das von den Russen eingesetzte Regime schickt die Mädchen in die Schule. Shirin-Gol ist erst verängstigt, doch dann lernt sie begeistert - lesen, schreiben, selber denken. Sie erobert eine Welt, von der sie vorher nicht einmal eine Ahnung hatte. Plötzlich hat das Wort Kind einen anderen Klang - es klingt nach Freiheit. Den Zauber dieserFreiheit wird Shirin-Gol nie mehr vergessen. Auch als dann Morad vor ihr steht, der Mann, dem Shirin-Gol als Ausgleich für die Spielschulden ihres Bruders zur Frau gegeben wird, lässt sie sich nicht mehr einsperren. Sie überzeugt ihn, dass sie weiter zur Schule gehen muss. Morad ist ein guter Mann, der sie nicht schlägt, nicht vergewaltigt. Doch auch er ist vom Krieg gezeichnet, den er gegen seine Landsleute führen muss. Er sucht Vergessen im Opiumrausch. Shirin-Gol bekommt eine Tochter und einen Sohn, flieht, verliert ihren Mann aus den Augen, geht nach Pakistan, findet Morad dort wieder, verkauft ihren Körper, um zu überleben, wird Opfer von Vergewaltigungen. Als die Russen abziehen, hofft sie auf Frieden und ein freieres Leben. Doch nach einem jahrelangen verheerenden Bruderkrieg errichten die Taleban ein gnadenlos frauenfeindliches Regime. Wieder flieht Shirin-Gol, die sich nicht hinter Mauern und Schweigen verbergen will. Kein Grauen, kein Schmerz können sie brechen. Immer wieder sucht sie für ihre Familie einen Ort, der Sicherheit verspricht. Bis heute hat sie diesen Ort nicht gefunden.
Autorenportrait
Siba Shakib wurde im Iran geboren und wuchs in Teheran auf. Als Perserin sind ihr Religion, Tradition und Mentalität der Menschen in Afghanistan vertraut. Seit vielen Jahren arbeitet sie dort als Autorin und Filmemacherin. Ihre zum Teil preisgekrönten Dokumentationen, vor allem für die ARD, sind aufrüttelnde Belege für die verheerende Situation der Bevölkerung in Afghanistan. Ihr erstes Buch "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen" wurde ein internationaler Bestseller und in 16 Länder verkauft. Die Verfilmung bereitet die Autorin derzeit vor. Sie machte Filme wie "Mahmoody gegen Mahmoody" oder "Eine Hand voll Gras" und begleitete unter anderem die Skorpions auf ihrer Welttournee. Seit deutsche Soldaten mit dem Mandat der UN in Afghanistan stationiert sind, steht Siba Shakib ihnen beratend zur Seite und arbeitet eng mit ISAF (International Security Assistance Force) zusammen. Sie lebt abwechselnd in Deutschland, New York und Italien.
Leseprobe
Eine süße Blume und eine Muttermalschwester In Afghanistan hat fast jeder Name eine Bedeutung. Shirin-Gol heißt Süße Blume. Zu behaupten, in dem Moment ihrer Geburt habe ihre Mutter eine süße Blume gesehen, den süßen Duft einer Blume gerochen oder gar an eine süße Blume gedacht, wäre erfunden und nichts als reine Sozialromantik verwestlichter Fantasie. Wahrscheinlich hat Shirin-Gols Mutter, wie alle Mütter dieser Welt, bei der Geburt ihrer fünften Tochter, ihres neunten Kindes, große Schmerzen durchgestanden, und wahrscheinlich hat sie sich in diesem Moment überlegt, wie sie mit ihrem ohnehin geschwächten Körper und schlaffen Brüsten noch ein weiteres Kind stillen soll. Und wahrscheinlich ist sie froh gewesen, als sie das Kind aus ihrem Körper gezogen und gesehen hat, dass es nur ein Mädchen ist, denn wäre Shirin-Gol ein Junge gewesen, hätte er noch mehr Milch gebraucht, noch mehr Aufmerksamkeit. Die Mutter hätte ihn öfter auf dem Arm tragen müssen, sie hätte ein Fest zu seiner Geburt geben und ein Schaf schlachten, Geld für seine Beschneidung auftreiben und ihn zum Mullah schicken müssen, damit er den Koran lernt. Nein, Allah ist gütig und hat ihr dieses Mal nur eine Tochter geschickt. Genau genommen ist der Herrgott immer gütig gewesen zu Shirin-Gols Mutter. Er hat ihr als erstes Kind einen Sohn in den Bauch gelegt, sodass ihr Mann sich wie ein echter Mann fühlen konnte, ihr weder die Zähne ausschlagen noch sich von ihr scheiden lassen oder sie in ihr Vaterhaus zurückbringen musste. Zur Sicherheit und damit alles bleibt, wie es ist, hat Gott ihr nach dem ersten gleich wieder einen Jungen geschickt. Und auch das dritte Kind ist ein Sohn. Dann hat der Herrgott auch mal an Shirin-Gols Mutter gedacht und ihr dreimal hintereinander Töchter geschickt. So hat sie endlich Hilfe bekommen, bei der vielen Arbeit mit dem Ehemann und den drei Söhnen, dem Feldbestellen, Brotbacken, Kleidernähen, Schafehüten, Kühemelken, Essenkochen, Teppichknüpfen und was sonst noch an Arbeit anfällt. Die nächsten beiden Kinder werden wieder Jungen, für jeden von ihnen schlachtet Shirin-Gols Vater ein Schaf, jeder der beiden muss beschnitten werden, aber zumindest müssen diese beiden nicht zum Mullah, weil ja schon die ersten drei Söhne der Familie den Koran gelernt haben. Und im Jahr nach den beiden nicht mehr so wichtigen Brüdern kommt schließlich Shirin-Gol auf die Welt. Für den Vater ist das weder gut noch schlecht. Für die Mutter ist es gut. Shirin-Gol ist ein ruhiges Kind, und sie hat es gut im Leben. Die meiste Zeit ihres Kleinmädchenlebens lassen alle sie in Ruhe. Sie sitzt im Schatten an der Ecke der Lehmhütte auf dem sandigen Boden, sieht zu, wie die Mutter und der Vater, die älteren Brüder und Schwestern das kleine Feld bestellen, die wenigen Schafe melken, den Esel tränken, den Staub aus der Hütte fegen, Teppiche knüpfen, Essen herbeischaffen, Brot backen, das Überleben der Familie jeden Tag und irgendwie von neuem hinbekommen. Shirin-Gol wird von der Schwester mit dem Muttermal auf der Wange jeden Morgen an die Ecke gesetzt, bekommt ein Stück Brot in die Hand, hat keine andere Aufgabe, als sich möglichst ruhig zu verhalten, einfach nur zuzusehen, zu begreifen, worauf es im Leben eines Mädchens ankommt: nicht auffallen, arbeiten und den Befehlen der Jungen und Männer folgen. Erst als sie etwa zwei Jahre alt ist, erhebt Shirin-Gol sich zum ersten Mal allein, kommt aus ihrer Ecke vor der Hütte, macht ein paar Schritte, geht zur Muttermalschwester, die vor der Hütte hockt und Wäsche wäscht, hockt sich neben sie, planscht mit ihrer kleinen Hand in der Seifenlauge herum, bekommt eine auf die Finger, pinkelt auf den Boden, wird von der Muttermalschwester wieder an ihren Platz getragen und hingesetzt. Alles das sieht der Herrgott und erinnert sich in diesem Moment wieder an Shirin-Gols Mutter, und es fällt ihm auf, dass er zwei Jahre lang vergessen hat, Shirin-Gols Mutter ein neues Kind in de ...