Beschreibung
Schon als Kind flüchtete sich Jonah Doyle in eine Welt der Phantasie, in der er die Liebe fand, die er in der Realität so schmerzlich vermisste. Doch kaum erwachsen, erfährt er, dass er einen Halbbruder hat, und in Troy hofft er endlich einen Freund, vielleicht sogar eine Familie zu finden. Doch Troy begegnet Jonah mit unverhohlener Ablehnung. Bis dieser schließlich einen verzweifelten Versuch unternimmt, sich Aufmerksamkeit und Liebe zu erpressen: Er entführt Troys kleinen Sohn Loomis ...
Autorenportrait
Dan Chaon hat bereits zwei Sammlungen von Kurzgeschichten geschrieben. Schon der erste Band, "Fitting Ends and Other Stories", wurde begeistert gefeiert. "Damit du an mich denkst" wurde gleich mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem wichtigsten Preis "Best American Short Stories", dem "Pushcart Prize" und dem renommierten "O''Henry Prize". Chaon lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Cleveland.
Leseprobe
24. März 1977 Jonah war eine kurze Zeit tot, bevor ihn die Sanitäter wiederbelebten. Er spricht nie darüber, denkt aber oft daran und überlegt, dass dieser Moment der wichtigste in seinem Leben ist. Vielleicht hat dieser Unfall den Lauf seines weiteren Lebens bestimmt. Er denkt an die große Kuckucksuhr im Wohnzimmer seines Großvaters, an das dumpfe Geräusch der Gewichte und das dissonante Schnarren der Federn, wenn sich das Türchen öffnete und der Vogel herauskam; er denkt an sein eigenes Herz, das aufgehört hatte zu schlagen, als die Sanitäter bei ihm waren, und dann plötzlich wieder einen Sprung machte. Niemand wusste, warum; es fing einfach wieder an zu schlagen, als sie ihn gerade für tot erklären wollten. Das war Ende März 1977 in South Dakota, ein paar Tage nach seinem sechsten Geburtstag. Wenn seine Erinnerung ein Film wäre, würde die Kamera als erste Einstellung eine Totale aus der Luft zeigen. In diesem Film würde man, überlegt er, das kleine Haus seines Großvaters von oben sehen, man würde den gelben Schulbus beobachten können, wie er in diesem Augenblick am Rand der Schotterstraße hielt. Jonah war an jenem Tag in der Schule gewesen. Er hatte etwas gelernt, vielleicht sogar mehrere Dinge, und war dann mit dem Schulbus nach Hause gefahren. In seinem Ranzen waren Blätter mit Schreibübungen und Rechentabellen, die der Lehrer mit roter Tinte korrigiert hatte, und ein Bild mit einem Osterei, das er für seine Mutter ausgemalt hatte. Er saß auf einem grünen Plastiksitz vorn im Bus und merkte gar nicht, dass der Bus angehalten hatte, weil er mit einem Loch beschäftigt war, das jemand mit einem Taschenmesser in den Sitz geschnitten hatte. Er untersuchte das Loch, sah die Eingeweide des Sitzes aus Metallfedern und steifem weißem Stroh. Draußen war es sonnig, und der Schnee war größtenteils geschmolzen. Abgasschwaden aus dem Auspuff des Busses stiegen im Schein des Warnblinklichts auf, und die schweigsame Busfahrerin öffnete die Tür für ihn. Jonah mochte die anderen Kinder im Bus nicht und hatte das Gefühl, dass auch sie ihn nicht mochten. Er spürte ihre Blicke im Rücken, als er aus dem Bus ausstieg und an dem weichen, schlammigen Rand der Böschung stand. Aber im Film würde man das nicht sehen. Im Film würde man nur sehen, wie er aus dem Bus stieg, ein kleiner Junge, der losrennt und seinen Ranzen hinter sich durch den nassen Schotter schleift, eine rote Strickmütze, einen abgetragenen blauen Anorak, Steine, die unter seinen Stiefeln knirschen und ein angenehm gleichmäßiges Geräusch machen. Der Zuschauer würde über allem schweben wie ein Vogel, über dem langen Schotterweg, der vom Briefkasten zum Haus führt, über dem Gestrüpp im Straßengraben, den Telefonmasten, Stacheldrahtzäunen und Eisenbahnschienen. Der Horizont und die weite Ebene aus Staub und Wind. Das Haus von Jonahs Großvater lag einige Meilen außerhalb der Kleinstadt Little Bow, wo Jonah zur Schule ging. Es war ein schmales, senffarbenes Farmhaus, daneben stand eine Pyramidenpappel, davor ein dürrer Strauch. Das war das einzige Grün weit und breit, wie auch das Haus seines Großvaters das einzige in der Umgebung war. Neben dem Haus verliefen Gleise, und ab und zu fuhr ein Zug vorbei. Dann zitterten die Fenster wie die Stimmgabel, die der Lehrer ihnen in der Schule gezeigt hatte. So fühlt sich ein Ton an, hatte der Lehrer erklärt und ließ sie die vibrierenden Zinken berühren. Manchmal kam es Jonah so vor, als ob alles sehr klein wäre. Mitten im kahlen Hof seines Großvaters stellte eine leere Milchtüte das Haus dar, und eine Reihe Matchbox-Autos, die er mit Tesafilm zusammengeklebt hatte, waren der Zug. Er wusste nicht, warum ihm das Spiel so gut gefiel, aber er erinnerte sich, dass er es immer wieder gespielt hatte, dass er sich vorgestellt hatte, wie er und seine Mutter, sein Großvater und Elizabeth, der Hund seines Großvaters, alle in der kleinen Milchtüte wohnten und wie er selbst (ein anderer Teil seines Selbst) sich wie ein Riese oder eine Gewitterwol ...